Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
verzärteln.
»Wehret den Anfängen!«
Nationalsozialisten wie Haarer und ihr Münchner Verleger Julius F. Lehmann lehnten die liebevolle Beziehung zwischen einer jungen Frau und ihrem Säugling ab, weil sie darin die Anfänge einer verweichlichten Jugend witterten. Der Nachwuchs sollte gestählt ins Leben gehen, »hart wie Kruppstahl«, wie es in der Nazipropaganda hieß. Daher Haarers wiederholte Warnung: »Wehret den Anfängen!«
Vor allem aber – und hier trat Verleger Lehmann mit missionarischem Eifer auf – sollten die Deutschen lernen, auf die Reinhaltung ihrer Rasse zu achten. Lehmann besaß einen der größten deutschen Medizinverlage und war in erster Linie nicht an hohen Auflagen, sondern an den Inhalten interessiert. Mit seinen Veröffentlichungen hatte er schon vor dem Ersten Weltkrieg bewirkt, dass die bis dahin von den Universitäten und Medizinern wenig beachtete Rassenhygiene diskutabel wurde. Er machte sich auch stark für den ersten Lehrstuhl für Rassenkunde, der 1930 an der Universität Jena eingerichtet wurde. Als der Verleger die Zeit gekommen sah, den Gedanken der Rassenhygiene möglichst an jede deutsche Frau heranzutragen, erkannte er in Haarer die geeignete Autorin, was dann auch ihr Vorwort bestätigte.
Wir erleben heute einen großangelegten Feldzug unserer Staatsführung mit, in dem das gesunde Erbgut und das rassisch Wertvolle zäh verteidigt werden gegen alles Krankhafte und Niedergehende, das unter der Herrschaft eines falsch verstandenen Freiheitsbegriffes zu überwuchern drohte. Jedem Volksgenossen müssen die Augen geöffnet werden für die Bedeutung der richtigen Gattenwahl auch nach gesundheitlichen und rassischen Gesichtspunkten. Drei Marksteine weisen hier die Richtung: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und das Ehegesundheitsgesetz.
Der Ratgeber, dessen Titelblatt die Autorin als »Frau Dr. Johanna Haarer« bezeichnet, war nach seinem ersten Erscheinen 1934 schon nach wenigen Wochen vergriffen. 1937 war die Auflage auf 100 000 gestiegen, und ein Fortsetzungsband »Unsere kleinen Kinder« war herausgekommen. Bis Kriegsende wurden von »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« 700 000 Exemplare verkauft. Ohne Zweifel hatte die Erfolgsautorin und glühende Anhängerin des Führers, die 1939 mit ihrem Lesebuch »Mutter, erzähl von Adolf Hitler« einen weiteren Bestseller landete, in der Säuglingspflege und der Kindererziehung Maßstäbe gesetzt. Aber die Erfolgsstory ging nach dem Krieg weiter: 1949 war das Buch wieder auf dem Markt. Nun hieß es statt »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« nur noch »Die Mutter und ihr erstes Kind«, war von nationalsozialistischem Gedankengut gereinigt, hielt sich auch mit pädagogischen Äußerungen weitgehend zurück und galt bis zu seinem letzten Erscheinungsjahr 1987 als ein Standardwerk. Ein Jahr später starb Johanna Haarer.
Der kaum veränderte Titel der Neuerscheinung legitimierte gleichzeitig die Ursprungsfassung: Sie stand weiterhin daheim im Bücherregal, bereit, bei Erziehungsbedarf neues Unheil anzurichten, weil Eltern keinen Grund sahen, sich von einer so anerkannten Kapazität auf dem Gebiet der Säuglingspflege und Kleinkindpädagogik zu trennen.
Seinen Erfolg in der Nazizeit verdankt der Haarer-Ratgeber der Tatsache, dass er institutionell gefördert wurde. Vor allem geschah dies in der »Reichsmütterschulung«, die von der NS-Frauenschaft ins Leben gerufen worden war. Die Kurse wurden im Laufe der Jahre von Millionen jungen Frauen besucht. Auch in den Einrichtungen des BDM galt im Fach Säuglingspflege Dr. Haarer als die maßgebende Autorität, die noch weit in die neue Bundesrepublik hineinreichte.
Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Abschnitt aus der bereits erwähnten Untersuchung »Deutsche Nachkriegskinder«. Anfang der fünfziger Jahre wurden Mütter gefragt, wann ihre Kinder trocken waren. Das Ergebnis: 24 Prozent mit einem Jahr,26 Prozent mit eineinhalb Jahren und 22 Prozent mit zwei Jahren. Aus heutiger Sicht sind das verblüffende Zahlen, geht man doch davon aus, dass Trockenwerden ein Reifungsprozess ist und dass Kinder frühestens ab dem zweiten Lebensjahr ein Gefühl für die Blasenfüllung entwickeln. Eine amerikanische Studie, die 400 Mittelklasse-Kinder aus den Vorstädten Philadelphias erfasste, kam zu dem Ergebnis, dass von Trockensein erst ab drei Jahren die Rede sein könne. Und so sieht das frühe
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