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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Haarers Ratschläge reagiert Chamberlain mit unüberhörbarer Empörung: »Das Baby soll mit festem Griff bewegungslos gehalten werden, so daß es nur noch den Mund öffnen und schließen kann und schlucken muß, was der Erwachsene ihm zuteilt, und zu einem Zeitpunkt, den dieser bestimmt.« Sie sieht darin einen ungeheuerlichen Akt der Unterwerfung und Destruktion.
    Ich war schon Anfang zwanzig, als ich zum ersten Mal in der Lage war, Essen zu genießen. Ich erinnere mich noch genau. An der Uni hatten Leute gefragt: »Renate, kommst du mit in die Pizzeria?« Wenn ich an die gemeinsamen Essen bei uns zu Hause denke, wird mir übel. Hast Du wirklich vergessen, Mutter, wie die Stimmung am Eßtisch war? Wie Deinen drei Kindern der Prozeß gemacht wurde; wie sie wegen ihrer schlechten Noten zusammengestaucht wurden, wie Verbote und andere Strafen verhängt wurden für falsches Benehmen – eine lange Liste der Vergehen, die Du in Deinem Kopf gespeichert hattest und die nun dem Vater vorgelegt wurde, damit auch er sich an dem Erziehungsprogramm beteiligte. Gleichzeitig warst Du gekränkt, wenn so wenig gegessen wurde. Du sahst darin eine Missachtung Deiner Kochkünste. Du hattest keinen Blick dafür, dass es Kindern auf den Magen schlagen könnte, wenn sie sich bedroht fühlen. Am schlimmsten aber war es, wenn jemand Dein Essen nicht mochte – wenn jemand würgte und würgte und es am Ende gar erbrach, zum Beispiel die gekochte Fettschwarte vom Eisbein. So etwas war in Deinen Augen offene Meuterei. Da setzte es sofort eine Ohrfeige, und es mußte dreimal der Satz wiederholt werden:
    »Was Mutti kocht, schmeckt gut.«
    Wenn die Eltern Blank – was äußerst selten geschah – in den Fünfzigerjahren auf den gnadenlosen Umgang mit ihren Kindern angesprochen wurden, dann antworteten sie im Brustton der Überzeugung: »Wir halten nichts von Affenliebe.«
    Alle drei Kinder wurden im Krieg geboren, und alle drei wurden getreu den Grundsätzen erzogen, die Johanna Haarer unters Volk gebracht hatte. »Liebe Gerda, bist auch streng genug zu den Kindern?«, mahnte Albert Blank in einem Feldpostbrief.
    Johanna Haarer zeigte viel Verständnis für Eltern, die glaubten, sich nicht anders als mit Gewalt durchsetzen zu können: »Manchmal verfängt eben nichts anderes mehr als eine ›fühlbare‹ Strafe, und aus dem abschreckenden Klaps werden ein paar nachdrücklichere Schläge.«
    Jede Art unerwünschten Verhaltens sollte einem Kind so früh wie möglich ausgetrieben werden, und hierzu zählte in vielen Familien: Weinen und Klagen im Keim zu ersticken – so wie Hitler selbst es gefordert hatte. Dazu gab es zwar explizit von Haarer keine Äußerung, aber ihre ganze Haltung gegenüber dem Kind machte deutlich, dass es seiner Mutter zu folgen hatte. Keine Widerrede! Auf diese Weise geschah es, dass sich die Erwachsenen, ganz gleich, wie hart sie ihre Kinder anfassten, von Haarers Autorität ermutigt fühlten.
Wie Wölfchen seine Lebensfreude verlor
    Anfang April 1943: Die Deutschen stehen unter dem Schock der Niederlage von Stalingrad. Eltern bangen um ihre Söhne, Frauen um ihre Männer, von denen schon seit Wochen keine Feldpost mehr kam. Die allgemeine Stimmung ist eine Mischung aus Angst, Sorge und Gereiztheit. In einem Zug von Breslau nach Berlin sitzt die junge Gerda Blank mit ihrem halbjährigen Sohn und der kleinen Renate. Am Anfang der Reise ist Wölfchen noch ein richtiges Strahlekind. Als würde die Sonne aufgehen, sagen die Mitreisenden im Abteil, ja, wie das wärmt in diesen schweren Zeiten. . . Aber dann fängt der Säugling an zu quengeln, brüllt schließlich los. Sein Geschrei steigert sich, wird unerträglich. Seine Mutter schafft es nicht mehr, ihn zu beruhigen. Da wendet sie sich mit einem Lächeln an die anderen Menschen im Abteil und fragt höflich: »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich ihn mal kurz durchprügele?« Aber nein, wird ihr bedeutet, machen Sie nur ...
    Die Mutter legt Wölfchen übers Knie und schlägt ihm ein paarmal aufs Hinterteil – »durchaus kräftig«, wie sie später mit Nachdruck sagen wird, »sonst hätte es ja nicht gewirkt«. Und wie es wirkte: Der Säugling schnappt noch mal kurz nach Luft und schläft postwendend ein.
    Später wird die Geschichte von Wölfchens schlagartigem Verstummen in das Repertoire der Familienanekdoten aufgenommen. Noch als alte Frau wird Gerda Blank davon erzählen, allerdings nur im Kreise von Gleichaltrigen, bei denen sie sich der Haltung sicher sein kann,

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