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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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kümmerte sich derweil um Elisa und ihre Geschwister: »Aber auch von denen wurden wir verhauen.« Großeltern, Tanten und Onkel waren inzwischen in das zerstörte Haus gezogen, hatten notdürftig Mauern hochgezogen und das Dach geflickt. Dennoch blieb es undicht. Es regnete herein – es schneite sogar in die Zimmer.
    Und immer wieder der Hunger! »Nachdem meine größereSchwester eingeschult war, saß ich, vier Jahre alt, monatelang mit ihr im Unterricht; ich saß völlig unbeschäftigt dabei, nur weil es danach Brei ins Henkeltöpfchen gab.«
    Pfarrer Reichel spielte derweil den Gerechten. Als sein ältester Sohn Käse verteilte, den er in den Trümmern in einem Schwarzhändlerlager entdeckt hatte, rief der Vater die Polizei und zeigte die Männer an. Ein anderes Mal entriss er dem Sohn eine Stange Zigaretten – so ziemlich das Kostbarste, was man in diesen Zeiten besitzen konnte – und warf sie ins Plumpsklo. »Alles Sünde«, schrie er dabei, »alles Sünde!«
    Auch mussten Reichels Kinder von dem wenigen, was sie besaßen, etwas abgeben an andere, die noch ärmer waren. Elisa erklärt: »Man musste auf alles verzichten, was darauf hindeutete, dass man gierig wird. Aber daraufhin wurden wir Kinder ja erst recht gierig! Und später, als Erwachsene, bin ich dann geizig geworden. Aber das habe ich inzwischen abgelegt.«
    Im eiskalten Winter 1947 erhielt ihre Mutter aus den Care-Paketen einen Pelzmantel, aber auch den musste sie auf Befehl des Vaters weggeben. Sie widersprach nicht, war sie doch schon in ihrem eigenen Elternhaus auf absoluten Gehorsam programmiert worden. Sie verhütete auch nicht, weil ihr Mann dies für Sünde hielt, und so kam es, dass in den Nachkriegsjahren noch zwei weitere Kinder geboren wurden.
    Elisa war die fünfte in der Geschwisterkette und die bravste. Denn: »Man sieht ja, was den älteren Geschwistern passiert.«
    Ihre Eltern schienen immer froh gewesen zu sein, glaubt sie, wenn Erwachsene sich anboten, die Kinder vorübergehend zu sich nach Hause zu nehmen. »Es waren Leute, die meinten: ›Die Kinder sind ja so niedlich‹ – und wir waren einverstanden, weil wir dort eventuell etwas zu essen kriegten.«
    Die Eltern ließen ihre Kinder ziehen, ohne an Kontrolle überhaupt nur zu denken. Der liebe Gott würde schon für sie sorgen . . . Derweil nutzte eine Frau aus der Gemeinde die günstigen Umstände, indem sie zwei Mädchen, drei und fünf Jahre alt, an die Hand nahm und sie immer wieder demselben Mann zuführte.Über ein Jahr, so rekonstruierte Elisa während einer Therapie, wiederholte sich der sexuelle Missbrauch. Erst seien es Doktorspiele gewesen, dann hätten sie den Mann befriedigen müssen. »Dafür stand dann Brot da.«
    In der Welt, die Elisa und Mechthild von ihren Eltern übernommen hatten, kamen »böse Onkel« nicht vor. Es galt nur, dass man als Kind den Erwachsenen zu gehorchen hatte, ohne Wenn und Aber. So begannen Jahre versteckten Leidens.
    »Man versuchte, es zu erzählen, aber es glaubte einem keiner«, sagt Elisa. »Und wenn man erst einmal als Missbrauchsopfer programmiert ist, dann passiert es immer wieder.« Wieder zieht Ekel über ihr Gesicht. »Da versteckte man sich in den Trümmern, weil man mal musste, und schon stand da ein Jugendlicher und zwang einen, ihn zu befriedigen.« Sie starrt vor sich auf ein Rosenbeet, dann spricht sie leise weiter: »Es gab eben immer Gewalt. Ob nun vom Vater geschlagen oder von anderen Männern mit Gewalt gezwungen, das war für mich eins. Ich musste etwas über mich ergehen lassen. Man fühlte sich so elend, man fühlte sich so schmutzig. Und ich hatte immer im Bewusstsein, dass alles, was mir geschah, von Gott so gewollt war.«
»Ich habe keine Eltern mehr«
    Die Folge war, dass Elisa als Kind verstummte. Sie hörte auf zu reden. Nur noch gelegentlich wechselte sie ein paar Worte mit Gleichaltrigen. »Das war bei mir natürlich schon eine psychische Erkrankung«, weiß sie heute. »Mit neun Jahren habe ich dann entschieden: Erstens, ich lasse mich nie mehr anfassen, und zweitens, ich habe keine Eltern mehr. Es hilft mir ja sowieso keiner.«
    Kurz darauf erklärte ihr Vater völlig unvermittelt, er werde seine Kinder ab sofort nicht mehr schlagen. Sie müssten jetzt selbst die Verantwortung für ihr Tun übernehmen. Was war geschehen? Hatten ihn andere Erwachsene endlich zur Vernunft gebracht? Elisa schüttelt den Kopf. »Nein. Es war ihm klar, dass wir, als wirgrößer wurden, auch mehr hätten erzählen können.

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