Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
nur ein Haufen rauchender Trümmer. Ich kann mich nicht erinnern, je wieder ein solches Glücksgefühl gehabt zu haben wie in diesem Moment.
NEUNTES KAPITEL
»Aber recht, recht lieb wollen wir sein ...«
Wenn Kinder zu Freiwild werden
Vor zwölf Jahren starb Elisas Schwester. Es war Selbstmord. Die Fünfzigjährige hatte sich von einer Talbrücke in die Tiefe gestürzt – genau jene Brücke, auf der Elisa und Mechthild schon als kleine Mädchen gestanden und überlegt hatten: Machen wir doch einfach Schluss und springen . . .
Die Kindheit von Elisa, geboren 1944, wäre auch ohne Krieg eine Kette von Gewalt und Leid gewesen. Denn ihr größter Feind waren nicht die Bomben und der Hunger, sondern ihr eigener Vater. Dennoch habe ich mich entschlossen, ihre Geschichte zu erzählen, weil sie deutlich macht, dass Kinder damals doppelt gefährdet waren. Man weiß zwar, dass Kinder in Zeiten von Chaos und Elend oft alleingelassen werden, aber man denkt nicht unbedingt weiter: dass dies günstige Umstände sind für Erwachsene, die einen Gewinn daraus ziehen, sich an Schwächeren zu vergreifen. Kinder können im Krieg zu Freiwild werden.
Auch lässt sich am Beispiel von Elisa Freiberg* gut darstellen, was Traumata anrichten können: dass die Folgen häufig erst viele Jahre später – wie aus heiterem Himmel – auftauchen und dass die Symptome meistens nichts über die Ursache verraten. Elisas Überlebensgeschichte zeigt, dass es möglich ist, sich dem Grauen der eigenen Kindheit zu stellen, ohne daran zu zerbrechen. Es ist wirklich kein Naturgesetz, dass im Alter alles schlimmer wird. Es kann auch besser werden. Man muss nicht alles aushalten. Es kann sich lohnen, nach Alternativen zu suchen, wenn der Körper oder die Seele schmerzen: So mancher Patient, der deshalb unter starke Medikamente gesetzt wurde, hätte vielleicht bessere Chancen, wenn sein Arzt auch einmal ein Kriegstrauma in Betracht zöge.
Aber kommen wir zum Ausgangspunkt unseres Kapitels zurück, zum Elend der Nachkriegsjahre. Wenn davon berichtetwird, ist gleichzeitig immer wieder von einem großartigen Zusammenhalt die Rede. Schaut man genauer hin, entpuppt sich die Solidarität als etwas, das sehr schnell an seine Grenzen stieß. Notgemeinschaften entstanden, weil Menschen in Gruppen mehr Chancen hatten durchzukommen und weil sie sich auch vor Überfällen und Diebstahl besser schützen konnten. Es wird leicht übersehen, dass die Fürsorge für die eigenen Kinder, wenn es um das nackte Überleben geht, oft nur ein Mythos ist. Wir wissen von den Straßenkindern in Brasilien, die fortgeschickt wurden oder aus eigenem Antrieb ihre Familie verließen, weil sie dort nicht genug zu essen bekamen oder misshandelt wurden. Wir hören von Eltern, die ihre Kleinkinder verkaufen oder ihre pubertierenden Töchter in Bordelle geben. Wir erinnern uns vielleicht an die Zeichnungen des Malers Heinrich Zille, die im Berliner Hinterhofmilieu entstanden. Seine Bildbände »Mein Milljöh« sowie die Zyklen »Hurengespräche« und »Berliner Luft« wurden während des Ersten Weltkriegs veröffentlicht. Seine satirischhumoristischen Zeichnungen weisen ihn als einen genauen Chronisten der damaligen Elendsverhältnisse aus.
Zille weiß, dass der Wortwitz der Armen ein Teil ihrer Überlebensstrategie ist, aber er übersieht auch nicht die stumme Not der Kinder – zerlumpte kleine Wesen, hungernd und bereit zur Prostitution. All dies scheint in Zilles Hinterhöfen genau wie in den brasilianischen Slums kein Geheimnis unter den Bewohnern zu sein, weil die Armut von einer Generation in die nächste weitergetragen wurde.
Ein Volk von Zerlumpten und Bettlern
Die Kapitulation der Deutschen 1945 führte dagegen zur Verelendung eines Volkes, das einmal bessere Zeiten gekannt hatte. Am 30. Juli 1944 notierte der Sozialist Erich Nies in seinem später veröffentlichten »Politischen Tagebuch«: »Das deutsche Volk wird in seinen Trümmern jahrelang leben müssen, hungernd undarm, furchtbar arm, arm wie noch zu keiner Zeit seiner Geschichte. Es wird dem hypnotisch wirkenden Blick der ganzen Welt ausgesetzt sein und in seinen Ohren wird wie Donnergetöse die höhnende Weltenstimme gellen: Du hast’s verdient, es geht Dir grimmig schlecht (Faust). Und jeder Einzelne wird empfinden müssen, daß er ins Leere klagt.«
Genauso kam es. Aus einer Gesellschaft mit überwiegend kleinbürgerlichen Strukturen wurde quasi über Nacht ein Volk von Zerlumpten und Bettlern, unter ihnen nicht
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