Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
erschöpft war, wurde ihr bewusst, was für einen grausamen Vater sie gehabt hatte.
Rein äußerlich verlief der Alltag der jungen Frau ohne Zwischenfälle. Sie arbeitete als Kinderkrankenschwester und bekam mit 25 Jahren wieder eine Tochter. Ende der Siebzigerjahre dann kam ihr der Gedanke, es könne so nicht weitergehen mit ihren »Zusammenbrüchen«. Sie nahm sich eine Deutschlandkarte vor und suchte die Stadt, die am weitesten von Kassel entfernt lag. So entstand der Plan für einen Umzug nach München. Es war der große Wendepunkt in ihrem Leben. Sie trat aus der Kirche aus, packte zwei Koffer und ließ ihre Töchter, damals acht und elf Jahre alt, bei ihrem Mann zurück. »Die hatten es da viel besser«, sagt sie. »Ich hätte ihnen nichts bieten können – und außerdem«, sie hält kurz inne, bis sie zugibt: »Ich hätte es nie gepackt mit den Kindern.«
In München arbeitete sie wieder in einer Klinik, wie üblich hart und ausdauernd. Auf der Station war sie vor allem deshalb beliebt, weil sie nie wegen Krankheit fehlte. Sie gönnte sich kein Auskurieren, keine Erholung. Jedes Unwohlsein, jede körperliche Schwäche wurde schon im Ansatz bekämpft. »In der Klinik fand ich immer jemanden, der großzügig Spritzen setzte«, berichtet sie. »Das war vor zwanzig, dreißig Jahren kein Problem. Hauptsache, die arbeitet weiter . . .« Es war ihr nicht bewusst, was sie tat – dass sie, indem sie Erkrankungen ignorierte, den Kontakt mit einem Gesetz aus ihrer Kindheit vermied: Wer krank ist, der hat es selbst verdient. Das ist eine Strafe Gottes dafür, dass er Schlimmes getan hat.
Nun, da sie sich aus der Enge ihrer Familie und des Gemeindelebensbefreit hatte, war sie plötzlich nicht mehr allein. Sie fand einen anregenden Freundeskreis. Er bestand überwiegend aus Menschen, die noch studierten oder an der Universität arbeiteten. Auf diese Weise erschloss sie sich eine völlig neue Welt. Mit der Zeit entdeckte sie verblüffende Fähigkeiten: Sie war klug, sie lernte schnell, sie sog die neuen Erkenntnisse förmlich auf. Der intellektuelle Diskurs lag ihr, das Überdenken und Ordnen schwieriger Zusammenhänge. Psychologie interessierte sie am meisten. Sie erhielt Zugang zu einem Seminar an der Münchner Universität. Ihre Beiträge wurden beachtet, sogar gelobt, und damit verringerten sich ihre Hemmungen, hier, in einem akademischen Rahmen, der ihr eigentlich gar nicht zustand.
Elisa traute sich etwas zu. Es tat ihr gut, dass sie bei Männern begehrt war. Ihr Leben befand sich auf einem guten Weg.
Doch ihre Vergangenheit holte sie auch diesmal ein. Es kam zu einem weiteren Zusammenbruch, einem »psychischen Ausnahmezustand«, wie sie es rückblickend nennt. Der Auslöser war, dass ihre älteste Tochter mit 13 Jahren in Mutters Wohnung einzog. »Ich dachte, dass ich ihr diesen dringenden Wunsch nicht abschlagen dürfe«, erklärt Elisa ihre damalige Zustimmung, obwohl sie ahnte, dass das Zusammenleben mit der Pubertierenden sie überfordern würde.
In kürzester Zeit war sie wieder das alte Bündel Elend: Heulen. Sich verkriechen. Nicht wissen, was los ist. Sich keine Hilfe holen. Ihre Angst, in der Psychiatrie zu landen. Ihre Angst vor einer Diagnose. Was würde einem da alles angehängt werden . . .
Vorbei waren die Zeiten, als das Arbeiten ihr Halt gegeben hatte. Nun suchte sie darin nur noch Betäubung. Ein sonderbarer Rhythmus bestimmte ihren Alltag: Sie arbeitete wochenlang, monatelang bis zur restlosen Erschöpfung – bis nichts anderes mehr half, als sich restlos aus dem Verkehr zu ziehen, was bedeutete, sich zwei Tage in ihrem Zimmer einzuschließen.
Stress macht sie vergesslich
Andere Symptome kamen dazu. Vergesslichkeit war eines davon. Auf Reisen fiel ihr plötzlich der Name ihres Hotels nicht mehr ein. Beim Autofahren überlegte sie plötzlich, warum sie dort war, wo sie sich gerade befand, warum sie überhaupt dorthin gefahren war. »Aber ich konnte meine Aussetzer und das plötzliche Losheulen gut kaschieren«, sagt sie. »Darum weiß ich, wie sich Analphabeten fühlen, wenn sie anderen etwas vormachen.«
Ihr Blutdruck stieg auf einen Wert von 240. Die Rückenbeschwerden wurden unerträglich. Endlich nahm sie wahr, dass sie sich in einer Wiederholungsfalle befand. Freiwillig begab sie sich in eine Psychotherapie, die sie aus eigener Tasche finanzierte, weil sie nicht wollte, dass irgendjemand ihr eine Krankheitsdiagnose verpasste. In der Therapie setzte sie sich erstmals mit ihrer Familie
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