Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
wenige, die sich an eine bizarre doppelte Moral klammerten. Werte wie Anständigkeit und Ehrlichkeit wurden zum Schein hochgehalten, obwohl kaum eine Großstadtfamilie durchgekommen wäre, hätte sie diese beherzigt. Es war das große Verdienst des Kölner Kardinals Frings, dass er von der Kanzel herab Verständnis für das Stehlen von Kohlen zeigte, weshalb in der Bevölkerung für diese Art von Diebstahl das Wort »fringsen« in Umlauf kam.
Was als Anekdote in die Kölner Stadtgeschichte einging, macht deutlich, wie schwer es dem Einzelnen gefallen sein mochte, moralisch die Orientierung zu behalten. Kurz: es handelte sich um Zeiten, in der Menschen besser klarkamen, wenn sie hie und da ein Auge zudrückten. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass gleich beide Augen geschlossen wurden, wenn Erwachsene eigentlich genau hätten hinsehen und eingreifen müssen. Unter solchen Bedingungen sind Aufmerksamkeit und Schutz für Kinder auf ein Minimum herabgesetzt. Das bedeutet: Gewalttätige Eltern haben die denkbar besten Chancen, ungehindert ihre Kinder zu quälen.
Ein Gott, der alles rechtfertigt
Wie alle Väter, die prügeln, sah auch Walter Reichel* sich nicht als Sadisten, sondern als verantwortungsbewussten Erziehungsberechtigten, der aus Elisa, Mechthild und den anderen Kindern anständige Menschen machen wollte. Zudem hatte er eine Autoritätauf seiner Seite, die durch nichts und niemanden angegriffen werden konnte: Gott. Was auch immer Reichel oder seiner Familie an Schlimmem widerfahren sollte – der liebe Gott hatte es so gewollt.
Elisa besitzt einen Brief, den er von einer Reise an seine Frau und die Kinder schrieb, nachdem er einen schweren Luftangriff miterlebt hatte: »Viele kleine und große Menschen sind tot. In einem Kindergarten sind allein siebzig Kinder mit den lieben Tanten verschüttet gewesen. Sie sind alle tot. Papa ist recht traurig da vorbeigegangen.« Am Schluss des Briefes heißt es: »Vergeßt nie, daß einmal der Tag kommen kann, da auch uns eine Kugel trifft. Ich bin so froh, dass ich weiß, der liebe Gott nimmt uns dann zu sich in den Himmel. Darum brauchen wir gar keine Angst zu haben. Aber recht, recht lieb wollen wir sein zu allen Menschen, besonders aber zu unseren Angehörigen, zur Oma, Mutti und den Geschwistern.«
Über seine Einstellung zum Nationalsozialismus weiß Elisa wenig. Er sei gern Soldat gewesen, glaubt sie, zumal er den ganzen Krieg über in Deutschland blieb und nicht an die Front musste. Er habe wohl zu jenen Mitläufern gehört, die Hitler von seinen Verbrechen abgetrennt hätten, nach dem Motto: Das hat der Führer nicht gewusst . . .
Bei Kriegsende hatten alle Familienmitglieder überlebt – aber ärmer als Reichel konnte einer gar nicht sein. Er war Pastor in einer christlichen Freikirche, die ihr Gemeindeleben und damit auch die Pfarrer aus eigenen Spenden finanzierte. Jeder andere Vater einer siebenköpfigen Familie hätte irgendwelche Hilfsarbeiten angenommen oder sich an Schwarzmarktgeschäften beteiligt, damit die Seinen etwas zu essen hätten. Nicht so Pfarrer Reichel. Er war der Meinung: Gott wird schon für meine Familie sorgen. »Kinder sind ein Geschenk Gottes, so sah er das«, erinnert sich seine Tochter Elisa. »Man muss sich um sie nicht kümmern. Das macht der liebe Gott. Wenn der liebe Gott ihnen nichts zu essen gibt, dann verhungern sie eben, das will dann der liebe Gott so . . .«
Elisa Freiberg ist eine verblüffend jung aussehende Frau, die ihren vorzeitigen Ruhestand genießt, zum zweiten Mal verheiratet, diesmal glücklich. Einige Wochen vor unserem Gespräch ist sie mit ihrem Mann aus der Stadt ins Grüne gezogen. Gelegentlich kommen ihre Kinder und die Enkel zu Besuch. Alles in Ordnung also? Ja und nein, sagt Elisa und führt mich zu einer Gartenbank. Es sei schön, dass sie keinen Berufsstress mehr habe. Aber leider sei richtig, was in ihrem Rentenbescheid aufgeführt sei: ihr Rückenleiden, die Depressionen, die posttraumatische Belastungsstörung. Zum Glück komme selten alles auf einmal, und es gebe auch beschwerdefreie Phasen. Aber nie wird Elisa vergessen, wem sie das verdankt: ihrem Vater.
Bußrituale für Heimkehrer
Pastor Reichel glaubte zu wissen, was Gott ihm auftrug. Gerade in diesen schweren Zeiten fühlte er sich zum Prediger und Seelsorger berufen, weshalb er seine Frau und die fünf Kinder 1946 aus einer fast unzerstörten hessischen Kleinstadt in das ausgebombte Kassel schleppte. Sie kamen im Gemeindehaus unter,
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