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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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allerdings im Keller, weil es sich um eine Ruine handelte. Jeden Tag ging der Pfarrer unverdrossen bis zu vierzig Kilometer zu Fuß, um in der Umgebung die Gemeindemitglieder zu sammeln und um die Kirche wieder aufzubauen. Damit traf er durchaus auf ein großes Bedürfnis. Viele Menschen, die den Boden unter den Füßen verloren hatten, suchten wieder Halt im Glauben. Für die einen war ein Pfarrer dann eine Vertrauensperson, wenn er die Ärmel hochkrempelte und Schutt wegräumte, nebenbei Kinder taufte oder beerdigte und dafür sorgte, dass ein Zusammenhalt in der Gemeinde entstand.
    Doch die Männer, die Walter Reichel aufsuchten, wollten etwas anderes: Erlösung. Sie hatten ihren Besitz, ihre Gesundheit, die besten Jahre ihres Lebens und womöglich auch ihre Identität verloren: Heimkehrer, oft nur noch ein Schatten ihrer selbst. DurchKrieg und Gefangenschaft waren sie es gewohnt, geführt zu werden. Und nun suchten sie eine neue Autorität, die ihnen sagte, wie es weitergehen sollte – vor allem aber, wie das Grauen, das sie in sich trugen und das ihre Träume beherrschte, ein für alle Mal auszulöschen sei.
    Elisa, Reichels Tochter, weiß es deshalb so genau, weil sie sich als Kind häufig in Vaters Arbeitszimmer aufhielt: »Ich hatte Frostbeulen, und sein Zimmer war als Einziges geheizt.« Täglich fanden dort Andachten im kleinen Kreis und Beichtrituale statt. Der Pastor machte den Heimkehrern klar, ihr früheres sündhaftes Leben trage die Schuld daran, dass der Krieg verloren worden sei. »Die ausgemergelten Männer haben dann geweint und gejammert, damit die Gnade wieder über sie kommt«, erinnert sich die Tochter. »Heute würde man von Exorzismus sprechen.«
    Und weil die Heimkehrer so sehr des Trostes bedurften, den ihnen der Geistliche nicht gab, holten sie sich sein Töchterchen und setzten es sich auf den Schoß. Elisa schüttelt sich heute noch vor Ekel. »Denen tat es gut, so ein kleines liebes Mädchen zu betatschen«, sagt sie, »und das kleine liebe Mädchen wehrte sich nicht. Unser Vater hatte in uns hineingeprügelt, dass Erwachsene immer im Recht waren.«
    Für sie besteht heute kein Zweifel, dass Walter Reichel seinen Glauben wie eine Droge einsetzte, die jede Realität von ihm fernhielt. Dass er selbst Gott missbrauchte, indem er sich wie dessen persönlicher Stellvertreter aufspielte: ein Guru in den Trümmern. Seine Familie aß derweil Kartoffelschalen. Stellte der Vater fest, dass die Kinder Lebensmittel gestohlen hatten, schlug er sie mit einem Lederriemen oder einem Rohrstock. In den Keller mussten sie für das Strafgericht gar nicht mehr gehen, dort wohnten sie bereits.
    »Besonders demütigend war«, sagt Elisa, »dass wir die Schuld dafür übernehmen mussten. Wir mussten uns bücken und stillhalten. Der Vater hat uns immer gesagt: Lieber holt euch Gott in den Himmel, als dass ihr hier auf Erden irgendetwas macht, das sündhaft ist.« Elisa wird nie vergessen, wie ihre älteste Schwester,die »vernünftigste« von allen Geschwistern, zum Vater hinging und sagte: »Vater, hau mich, damit ich ein liebes Kind werde.« Manchmal brach Reichel nach einer Züchtigung voller Selbstmitleid in Tränen aus und rief: »Der liebe Gott verlangt von mir, dass ich euch bestrafe.« Für seine Söhne und Töchter bestand kein Zweifel, dass ein solcher Vater, wie Stammvater Abraham im Alten Testament, berechtigt war, seine Kinder zu töten . . .
    Rückblickend sieht Elisa in ihm einen fanatischen, pietistischen Eiferer. Noch heute, sagt sie, würden die Untaten solcher Gottesmänner beschönigt, vertuscht und ihre Opfer »verteufelt«.
Sterben wollen und in den Himmel kommen
    Als Vierjährige wollte Elisa sich gemeinsam mit einer Freundin umbringen: »Damit wir sterben und in den Himmel kommen.« Die größeren Kinder hatten ihr erklärt, dass Wolfsmilch, eine typische Trümmerpflanze, tödlich wirke. Gut so – die beiden Mädchen tranken den weißen Saft. Elisa bekam danach Durchfall und Fieber. »Mir war ein paar Tage elend von der Vergiftung«, erinnert sie sich. Aber ihre Freundin habe sie danach nie wiedergesehen. »Wer in den Ruinen lebt, sagt meistens nicht Bescheid, wenn er wegzieht. Aber ich habe damals gedacht, sie sei tot und ich hätte sie umgebracht. Natürlich habe ich nie mit jemandem darüber geredet.«
    Da gab es noch die Mutter, aber sie war ständig unterwegs, irgendwo im Hessenland oder weiter weg, um für ihre Kinder etwas Essbares aufzutreiben. Ein halbes Dutzend Verwandte

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