Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Und davor hatte er Angst. Da ist er vorsichtig geworden.«
Sie hält ihren Vater für jemanden, der sein Verhalten noch steuern konnte: »Schon früher hatte er sich zusammengenommen, sobald er damit rechnen musste, dass seine Misshandlungen auffielen.« Wie mühelos, weiß seine Tochter heute, hätte er von Menschen seiner Umgebung ausgebremst werden können, wenn die ihm nur ein einziges Mal mit der Polizei gedroht hätten!
In friedlichen oder auch nur halbwegs geordneten Zeiten hätte ein Vater wie Walter Reichel seinen Sadismus kaum über so viele Jahre und womöglich auch nicht so exzessiv ausleben können. Vielleicht wäre er irgendwann vor Gericht gestellt und danach in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. In Zeiten des Terrors allerdings, wenn es den Herrschenden darum geht, ein Klima von Bedrohung und Willkür zu erzeugen, sind perverse Gewalttäter geradezu gefragt: wie jener Typus, der zunächst in der SA eine Heimat fand, in deren Uniform er ungestraft jüdische Mitbürger zusammenschlagen konnte – und später dann im Konzentrationslager, das ihm völlig freie Hand ließ, wenn er Lust darauf hatte, Häftlinge zu schinden, zu quälen oder zu töten.
Die Folgen der Grausamkeiten spürt Elisa bis heute, trotz jahrelanger Psychotherapie. Aber von außen merkt man ihr nichts an. Stets war es ihr wichtig gewesen, nicht aufzufallen. Ganz anders ihre Schwester Mechthild. Als Jugendliche begann sie zu stehlen, wohl auch aus Rache, glaubt Elisa. Dem Vater sei es jedesmal furchtbar peinlich gewesen, wenn die Polizei erschien. »Das zeigte ja: bei Pastors ist auch nicht alles in Ordnung.« Aber später verselbstständigte sich bei Mechthild das Stehlen und wurde zu einer psychischen Störung. Noch als Erwachsene hatte sie lange Zeit Probleme damit. Außerdem trank sie zu viel und konnte schließlich aus dem Teufelskreis der Sucht nicht mehr aussteigen. Alkoholkrank war sie und tablettenabhängig – und sie wurde, wie ihre Schwester es heute sieht, immer abhängiger von ihren Eltern, deren Lebenslügen sie sich unterwarf. Mehrfach versuchte Mechthild,sich umzubringen. Nach jedem Suizidversuch saß der Vater mit Vorwürfen an ihrem Bett: »Warum tust du uns das an?«
Während es für Mechthild kein Entkommen gab aus dem alten Familienmilieu, weil sie ihr Versagen als eigene Schuld sah, wurde Elisa immer unabhängiger von ihren Eltern. Was sie stützte, war ihre Entscheidung mit neun Jahren: Ich habe keine Eltern! Ich brauche niemanden! – Das rettete sie, führte sie jedoch zwangsläufig in eine große Einsamkeit. Sie besaß keine richtige Familie mehr, aber sie konnte auch keine neuen Bindungen eingehen, weil ihr die Fähigkeit zu vertrauen fehlte. Dennoch, es war eine Trennung in kleinen Schritten. Äußerlich änderte sich wenig. Noch besuchte sie die Eltern, noch sah sie ihre Geschwister. Noch blieb sie der Kirchengemeinde treu und fand dort den Mann, den sie jung heiratete. Im Interview schildert sie ihn als freundlich, intellektuell und unemotional. Sie selbst habe die Ehe gar nicht gewollt, aber die Eltern und Mitglieder der Gemeinde hätten sie unter Druck gesetzt.
Mit 22 Jahren bekam sie ihr erstes Kind. Alles hätte endlich gut werden können. Stattdessen erlebte Elisa ihren ersten Zusammenbruch. Sie konnte das Neugeborene nicht schreien hören . . .
»Und meine Tochter hat dauernd geschrien! Sie hörte überhaupt nicht mehr auf«, sagt sie. »Und da hab ich gedacht, hoffentlich wird sie krank und stirbt.«
Aus Angst, sie könnte dem Kind Gewalt antun, flüchtete sie aus der Wohnung – das schreiende Bündel allein zurücklassend –, rannte um den Häuserblock herum, bis sie sich beruhigt hatte. »Das ging so über Wochen«, erinnert sie sich. Keiner hat ihr geholfen. »Ich habe tagelang geheult und nicht gewusst, was los ist und was ich machen soll.« Heute weiß sie, dass sie in der Hilflosigkeit des Säuglings ihren eigenen Gefühlen als Kind wiederbegegnet und davon überwältigt worden war. Das Unlösbare ihrer Aufgabe hatte darin bestanden, dass sie das Neugeborene schützen sollte – während sie sich selbst völlig ausgeliefert fühlte.
Ausbruch und Neubeginn
Es waren die Sechzigerjahre. Elisa hatte noch nie von Psychotherapie gehört. Sie schämte sich ihrer »Zustände« und bekämpfte sie mit Disziplin, was lange Zeit auch funktionierte. Es kam ihr nicht in den Sinn, die Ursache dafür in falscher Erziehung zu sehen. Erst mit 34 Jahren, als ihre Lebensenergie so gut wie
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