Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
einer lebendigen und kindgerechten Vaterrolle nicht mehr die Rede war.«
Werbung für die »Tablettchen«
Wie viele Suchtkranke mag das betäubte Land produziert haben? Darüber ist im Zusammenhang mit den Langzeitfolgen des Krieges noch wenig nachgedacht worden. Ich weiß aus eigener Erinnerung an die frühen Sechzigerjahre und aus vielen anderen Berichten, dass der Hausarzt, der einen großen Teil seiner Kundschaft unter Pillen setzte und sie damit in kürzester Zeit süchtig machte, durchaus kein Einzelfall war. In so manchem Kaffeekränzchen wurde der »Herr Doktor« weiterempfohlen; man lobte seine diversen »Tablettchen« und klärte noch Unentschlossene darüber auf, was beruhigend und was aufputschend wirkte.
Ein unbekümmerter Umgang mit legalen Suchtmitteln in Pillenform war nicht nur in der Bundesrepublik weit verbreitet, sondern in vielen anderen Ländern ebenso. Das spricht weder für noch gegen die »Ursache Krieg«. Aber eines ist unbestritten: Suchtmittel betäuben. Sie sind genau das Gegenteil dessen, was Menschen brauchen, wenn es eigentlich an der Zeit wäre, eine schwierige Vergangenheit aufzuarbeiten und zu trauern. Erst in den Siebzigerjahren setzte sich die allgemeine Erkenntnis durch, dass die Abhängigkeit von Medikamenten genauso schlimm ist wie die vom Alkohol.
Karl Wolters*, ein Mann Ende sechzig, weiß darüber sehr viel.Er kennt sich aus mit Alkohol und mit Tabletten. Obwohl er schon lange auf beides radikal verzichtet, hat ihn seine Sucht so stark geprägt, dass er sie als Teil seiner Identität anerkennt und deshalb heute noch regelmäßig Selbsthilfegruppen besucht.
Karl ging vorzeitig, mit 61 Jahren, in den Ruhestand, und es brachte ihm eine große Erleichterung. Er war Hörfunkredakteur bei einem öffentlich-rechtlichen Sender gewesen, quasi ein Beamter, ohne nennenswerten Ehrgeiz. Politik und Wirtschaft waren seine Themen, beides hatte er auch studiert. Vielleicht hätte er mehr aus seinem Beruf machen können, sagt er, aber die starren Strukturen einer großen Institution seien seiner Zögerlichkeit, sich neuen Aufgaben zu stellen, sehr entgegengekommen.
Er bezog ein komfortables Gehalt und lieferte handwerklich solide Arbeit ab. Ein unauffälliger Kollege, einer, den es nicht ans Mikrofon drängte. Seine Manuskripte überließ er professionellen Sprechern.
Als junger Mensch hatte auch er seine Träume gehabt. Während er noch zur Schule ging, wollte er Philosoph werden; später ein bekannter Journalist, möglichst beim Fernsehen. Da er für seinen neuen Berufswunsch ein Studium der Philosophie als nicht günstig ansah, entschied er sich für Ökonomie und Politologie.
Vor allem aber – das wurde ihm als Student immer klarer – wollte er mit aufrüttelnden Sendungen die Gesellschaft verändern. Er war 1934 geboren und gehörte damit vom Alter her nicht mehr so recht zur 68er-Bewegung. Aber da er sich mit dem Studium Zeit gelassen hatte, fand auch er sich in Teach-ins wieder oder nahm an Sitzstreiks teil. Dass er noch immer Student war, während Gleichaltrige sich auf den zweiten und dritten Karriereschritt vorbereiteten, lag daran, dass er es nicht eilig hatte, eine bürgerliche Existenz zu gründen. Die freie Mitarbeit bei einem Radiosender interessierte ihn weit mehr als das Geschehen in den Seminaren, und so verplätscherten die Jahre an der Universität, bis er schließlich merkte, dass ihn weit Jüngere überholt hatten.
Alles dies hatte mir Karl Wolters bereits am Telefon erzählt, bevor ich ihn persönlich traf. Unser Kontakt war von Anfang anproblemlos, weil wir als Einstieg die gemeinsame Erfahrung Hörfunk hatten. Er erzählte lebhaft, auch sprunghaft, und er war – was man bei einem älteren Herrn eigentlich nicht vermuten sollte – von verblüffender Offenheit. Auch ihn hatte ich kennengelernt, weil er mir nach einer Radiosendung über Kriegskinder einen Brief geschrieben hatte.
Während des Interviews rauchte Wolters viele Zigaretten. Inhaltlich ging es bei unserem Gespräch kaum um den Krieg, dafür umso mehr um seine Suchterkrankung und seine Ängste, die erst dann richtig ausgebrochen waren, als er aufgehört hatte, zu trinken und Tabletten zu nehmen.
Beim Angriff die Finger in den Ohren
Sieht er seine Kriegskindheit als Ursache? Karl sagt dazu weder Ja noch Nein. Frühe Lebensumstände für seine Probleme verantwortlich zu machen ist eigentlich nicht sein Weg. Er mag sich nicht als Opfer »von irgendetwas« sehen. Dann fühlt er sich hilflos und
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