Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
ihre Empörung, ihr Entsetzen über die Gleichgültigkeit der Deutschen aus. Sie sah ein Verleugnen der Zerstörung im eigenen Land, aber auch ein Verleugnen der ungeheurenVerbrechen der Nationalsozialisten. Es muss für die Philosophin äußerst schmerzhaft gewesen sein, dass die Deutschen offenbar nur sich selbst als Opfer im Blick hatten. Wenn Hannah Arendt im Gespräch mit ehemaligen akademischen Kollegen die Verbrechen von Hitler-Deutschland berührte, das so viel Tod, Gewalt und Elend über Europa gebracht hatte, wurde ihr bedeutet, dass »die Leidensbilanz ausgeglichen« sei – mit dem Ergebnis, dass sie von niemandem so etwas wie ein Schuldbekenntnis hörte. Dass sie ihre Eindrücke in bitterem, vorwurfsvollem Tonfall niederschrieb, ist nachvollziehbar.
Heute, mit über fünfzig Jahren Abstand, mit einer zwar nicht bewältigten, aber doch weitgehend ausgeleuchteten Nazivergangenheit, mit pflichtbewussten Medien, die nach wie vor die damalige Schuld Deutschlands zum Thema machen, ist die Situation völlig anders. Heute ist es möglich und, so glaube ich, auch nötig, Arendts Beobachtungen etwas anders zu interpretieren.
Ein heikler Schritt
Mir ist bewusst, dass ein solcher Schritt für eine Deutsche immer noch heikel ist. Man könnte mir vorhalten, dass ich damit das rechte politische Spektrum bediene, dem an einem deutschen Opferkult gelegen ist. Bei kaum einem anderen Thema kursieren so viele gegensätzliche Haltungen, Erfahrungen, Vorwürfe, Beschwörungen, Missverständnisse. Auch läuft man Gefahr, bei Naziopfern alte Wunden aufzureißen.
Aber Tatsache ist, dass Hannah Arendt zur Charakterisierung der Nachkriegsdeutschen ähnliche Begriffe wählte, wie sie heute in Lehrbüchern über posttraumatische Belastungsstörungen zu finden sind. Sie beschrieb ein betäubtes, ein traumatisiertes Land. Es stimmt alles, was sie angetroffen hat. Nur eines stimmt vermutlich nicht: dass die Bewohner zu diesem Zeitpunkt schon die Wahl gehabt hätten, sich anders zu verhalten, als sie es taten. Aus der Traumaforschung ist bekannt, dass Menschen erst dann eineChance haben, ihre seelischen Verletzungen zu überwinden, wenn sich die Verhältnisse normalisiert haben. Das aber war 1950 noch nicht der Fall. Hannah Arendt selbst hat es präzise beschrieben. Aus heutiger Sicht waren viele Menschen Getriebene – denen vergleichbar, die von Suchtexperten als hochgradig arbeitssüchtig bezeichnet würden oder als Junkies, die unter Speed stehen.
Die alte Tugend, unabhängig von den Arbeitsbedingungen ein möglichst vortreffliches Endprodukt zu erzielen, hat einem blinden Zwang Platz gemacht, dauernd beschäftigt zu sein, einem gierigen Verlangen, den ganzen Tag pausenlos an etwas zu hantieren. Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben, oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist. Und man möchte aufschreien: Aber das ist doch alles nicht wirklich – wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die Ihr vergessen habt. Doch die Angesprochenen sind lebende Gespenster, die man mit den Worten, mit Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr rühren kann.
»Wir waren wohl alle wie narkotisiert«, hörte ich einmal einen Mann sagen. Er meinte damit die Gemütsverfassung, mit der die Kinder Luftangriffe, Flucht und Tieffliegerbeschuss ertrugen, aber auch die vorherrschende Atmosphäre in den ersten Nachkriegsjahren. Eine große Betäubung lag über dem Land, der sich vermutlich nur wenige Menschen vollkommen entziehen konnten. Wie mag es auf die Kinder gewirkt haben, wenn Erwachsene sie umgaben, die »nicht ganz bei sich« waren?
In seinem Buch »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg« schrieb Peter Heinl im Zusammenhang mit Krieg und Vaterlosigkeit: »Das Problem besteht nicht nur darin, daß Millionen von Vätern im Krieg ums Leben kamen. Ein vergleichbar gravierendes Problem ist das der emotionalen Vaterlosigkeit. Denn selbst wenn Väter Krieg und Gefangenschaft physisch überlebt hatten, konnte die väterliche Kompetenz aufgrund der erlittenen psychischen Traumatisierungen so in Mitleidenschaft gezogen sein, daß von
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