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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Auslandsurlaube für ihn nicht infrage kommen. Im Flugzeug fühlt er sich ausgeliefert, wie im Zug. Wie gern würde er einmal nach Griechenland reisen, »zur Wiege meiner geistigen Interessen«. Er traut sich nicht. Die Angst ist stärker.
Mit einer Behinderung leben
    Bei seinem letzten Therapieversuch schließlich erhielt er die Anregung, sich mit seiner Kindheit zu beschäftigen. Vielleicht, hieß es, fände er in seinen Kriegserfahrungen eine Erklärung für seine Störungen. Heute glaubt Karl, dass dies die falsche Empfehlung gewesen sei, weshalb er auf Therapeuten absolut nicht mehr gut zu sprechen ist. »Ich hatte dann angefangen, Aufzeichnungen zu machen«, erzählt er. »Aber je mehr ich mich mit dem Krieg beschäftigte, desto mehr wuchs die Angst, verrückt zu werden. Ich dachte, wenn ich weitermache, dann springe ich vom Balkon!«
    Seine Konsequenz: Eine gezielte Traumatherapie lehnt er ab. Er will kein Risiko mehr eingehen. Er habe nun halbwegs gelernt, sagt er, mit den Ängsten, der Atemnot und all den Einschränkungen zu leben. Besser nicht mehr am Status quo rühren. Lieber mit einer vertrauten Behinderung leben.

ZWÖLFTES KAPITEL
    »Als alter Mann werde ich glücklich sein«
Zwei Kindheiten: Hanno und Kaspar
    Dass Eltern ihren Kindern nicht nur Vermögen oder Schulden vererben, sondern auch psychische Lasten, gehört zu den immer wiederkehrenden Motiven in Familienromanen, bei den »Buddenbrooks« zum Beispiel. Als Thomas Buddenbrook den Niedergang seiner traditionsreichen Firma nicht mehr aufhalten kann, wird er depressiv, und gleichzeitig verlangt er von seinem kleinen Sohn das Unmögliche: Aus dem kränkelnden, feinfühligen und musisch hochbegabten Hanno soll einmal ein vitaler, erfolgreicher Geschäftsmann werden. Eines Tages begleitet er den Vater bei Pflichtbesuchen, und das Kind erkennt, mit welch ungeheurem Aufwand hier eine Fassade aufrechterhalten wird.
    Er sah nicht nur die sichere Liebenswürdigkeit, die sein Vater auf Alle wirken ließ, er sah auch – sah es mit einem seltsamen quälenden Scharfblick, wie furchtbar schwer sie zu machen war, wie sein Vater nach jeder Visite wortkarger und bleicher, mit geschlossenen Augen, deren Lider sich gerötet hatten, in der Wagenecke lehnte, und mit Entsetzen im Herzen erlebte er es, daß auf der Schwelle des nächsten Hauses eine Maske über ebendieses Gesicht glitt, immer aufs Neue eine plötzliche Elasticität in die Bewegungen ebendieses ermüdeten Körpers kam.
    Hanno spürt also sehr genau den Preis, den sein Vater zahlt, und die permanente Erschöpfung des Erwachsenen geht auf das Kind über. Stumm weigert es sich, sein Erbe anzutreten, und weiß doch, dass es aus der Familientradition kein Entrinnen gibt. Hannos Körper hält dem Druck nicht stand. Der Junge stirbt an Typhus, weil – wie Thomas Mann es ausdrückte – »die Stimme des Lebens« nicht laut genug in ihm rief.
    Die Geschichte von Kaspar Kampen* ist dagegen eine völlig andere. Sie ausgerechnet mit Hanno Buddenbrook einzuführen, obwohl in der Kindheit der beiden absolut keine Parallelen zu entdecken sind, mag paradox erscheinen. Und doch wird es Sinn machen, wenn wir am Ende dieses Kapitels noch einmal darauf zurückkommen. Im Unterschied zu Hanno wurde Kaspar in einem liebevollen Nest in Empfang genommen, im Jahr 1970. Er war ein respektiertes Kind, das bewunderte »Prinzchen«, bestens versorgt, wie es bei Einzelkindern seiner Herkunft und Altersgruppe üblich war. Kaspar fand seine Eltern in Ordnung. Großstadtbürger – er Wissenschaftler, sie Lektorin –, tolerant, an Politik und zeitgenössischer Kunst interessiert und beide geprägt von den pädagogischen Reformbewegungen der Siebziger, in die ihr Sohn hineingeboren wurde.
    Heute ist Kaspar 32 Jahre alt und von Beruf Operntenor. Auf der Bühne muss er sich oft in tragische Rollen hineinsingen, privat lacht er gern. Da amüsiert ihn besonders die Erinnerung an eine spezielle Macke seiner Mutter. Das sei für ihn eine typische Kindheitserfahrung gewesen, sagt er – und der einzige Mangel, an den er sich überhaupt erinnern könne: »Es gab nie, aber wirklich nie, frisches Brot. Meine Mutter hatte das frische Brot immer schon gekauft, aber es musste erst das alte weggegessen werden, sodass, wenn wir dann das neue gegessen haben, das dann auch schon wieder nicht ganz frisch war . . .«
    Gelegentlich hatten seine Eltern ihm vom Krieg erzählt, vom Hunger und von den Bombenangriffen im Ruhrgebiet, weshalb sein Vater fast

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