Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
ließ ihn nicht mehr los. »Ich dachte an Herzinfarkt, bin sofort ins Krankenhaus. Aber dort konnten sie nichts feststellen.«
Was tun? Er war Anfang dreißig, hatte eine Verlobte in Hamburg, die er am Wochenende besuchte, und wollte endlich etwas aus seinem Leben machen. Aber er handelte nicht danach. Karl ging zum Neurologen, schluckte tagsüber Valium, Librium und Adumbran. Und nachts schüttete er den Alkohol in sich hinein. Dennoch schaffte er sein Examen – die erste gute Nachricht in diesen Jahren, als er soff und zusätzlich medikamentenabhängig geworden war. Schließlich ging auch seine Verlobung in die Brüche.
Tabletten gegen die Todesangst
Dann dachte er: Du musst schauen, dass du dein Leben in geordnete Bahnen kriegst, dann kann dir nichts mehr passieren. Der äußere Rahmen musste stimmen. Hochschulabschluss, Festanstellung, Familiengründung. Genauso geschah es. Er ging zurück ins Ruhrgebiet, wurde Redakteur beim Hörfunk, fand eine Frau, wurde Vater eines Sohnes. Über Jahre versuchte er, Alkohol und Tabletten so einzusetzen, dass er sich irgendwie über Wasser hielt. Er musste trinken, um morgens das Zittern zu überwinden und den Tag überhaupt beginnen zu können. Sein Körper verlangte danach. Und er brauchte die Tabletten gegen die Todesangst. Ärztliche Anweisungen interessierten ihn nicht. Er hatte seine eigenen Vorstellungen davon, welche Dosierung zu welchem Zeitpunkt für ihn gerade die richtige war. Auf diese Weise hielt er durch, ging zur Arbeit, ernährte die Familie. Aber ständig drohte der Absturz. Das Auffallen. Der Skandal. Wie so viele Suchtkranke führte er ein anstrengendes Doppelleben. Die Filmrisse, die sein Gedächtnis perforierten, die Lügen, die Ausflüchte, die Peinlichkeiten, die Bitten um Verzeihung.
Eines Tages, nach einem Großabsturz, berichtet Karl, habe seine Frau das Kind genommen und sei zu ihren Eltern zurückgekehrt. Nach drei Jahren war die Ehe mehr oder weniger beendet. Auch sein Chef im Sender pochte darauf, dass er endlich etwas gegen seine Sucht unternehmen müsse: Klinik, Kur, Therapie, was auch immer . . .
Das Wunder geschah. Karl Wolters wurde trocken. Das war 1976. Aber noch immer schluckte er reichlich Pillen. Es dauerte vier Jahre, bis er auch hier kapitulierte und einen Medikamentenentzug machte.
Alles hätte nun endlich gut werden können. Die ersten Anzeichen waren da. Er heiratete erneut (und diese Ehe hält bis heute). Er wurde zum zweitenmal Vater, und er galt in seiner Redaktion endlich, nach langer Zeit, wieder als zuverlässiger Kollege.
Aber Karl wurde seine Panik nicht los. »Im Gegenteil«, sagt er.»Als ich keine Suchtmittel mehr nahm, wurden die Attacken immer schlimmer. Die Todesangst! Meine Ärzte sprachen von vegetativer Dystonie, von einer Herz-Angst-Neurose. Alles Worte, aber keine Hilfe. Und dann die Therapien. Hören Sie mir auf mit Therapeuten! Nichts und niemand hat wirklich geholfen.« Außer, fügt er hinzu, dass er in den Gruppen immer wieder über seine Zustände sprechen konnte und dort auf Menschen traf, die ähnliche Beschwerden hatten. In den Gruppen schüttelten die Leute nicht verständnislos den Kopf, wenn er von seiner »Angst vor der Angst« redete, die im Laufe der Jahre zu einer tatsächlichen Herzleistungssschwäche und zu Atemnot geführt hat.
Er sollte nicht rauchen, jaja, er weiß es, aber er sei nun mal süchtig, er brauche das Nikotin.
Karl empfindet seine Panik als eine »riesige Behinderung«, die im Übrigen sonderbar ausgeprägt ist. Zum Beispiel hat er Angst, in die Innenstadt zum Einkaufen zu gehen. Zu Fuß traut er sich das selten zu: die Angst vor der Angst, es könnte ihm etwas zustoßen. Was? Nichts Konkretes, gibt er zu. Einfach nur Panik und inzwischen auch die Atemnot. Im Auto fühlt er sich merkwürdigerweise sicher, auch auf dem Fahrrad. Zugfahren dagegen kann problematisch sein.
Eigentlich wollte er als Ruheständler wieder studieren, diesmal sein Lieblingsgebiet, die Philosophie. Es gab sogar Pläne, den Magister zu machen. Aber die hat er längst wieder gestrichen. Er hätte dafür mit der Bahn in eine benachbarte Stadt fahren müssen. Doch die Probefahrten hatten gezeigt: Geht nicht – er kommt schweißgebadet an. Erst dachte er, das Problem ließe sich lösen, indem er Unterwäsche zum Wechseln mitnimmt. Aber es ist nicht das Schwitzen, das ihm zusetzt, sondern das Gefühl, dass sein Leben bedroht ist.
Darüber hinaus kennt er die panische Angst vorm Fliegen, weshalb ferne
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