Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Vernichtung der eigenen Identität. Man ist ja nicht unbeschädigt. Man ist nur zufällig dem Tod entgangen. Das wußte man auch als Kind, daß man nur zufällig überlebt hat.«
Auch Forte hatte Jahrzehnte gebraucht, bis er in der Lage war, sich seinen Kriegserinnerungen zu stellen. In den Neunzigerjahren wurde sein Roman »Der Junge mit den blutigen Schuhen« veröffentlicht. Eine Form der psychischen Verarbeitung war das Schreiben allerdings nicht. »Man wird nicht befreit«, sagte er, »man wird es nicht los, aber es wird einem bewußt. Es sitzt dann im Kopf.«
Nicht, als Forte Notizen für seinen Roman machte, sondernerst beim Schreiben, beim Erzählen war die detaillierte, zusammenhängende Erinnerung gekommen, und zwar in Schüben. Der Schriftsteller schildert seine Erfahrung wie einen Dammbruch: »Plötzlich ist alles wieder da, was man als Kind erlebt und in sich verkapselt hat. Es bricht auf und ist da und erfaßt einen körperlich. Da bin ich auch zusammengebrochen. Man kann am Roman genau merken, wann ich die Erinnerungsschübe abbreche.«
Erst hier begriff ich, was Forte meinte, als er zu Beginn des Gesprächs gesagt hatte: »Einen Luftangriff kann man einmal beschreiben und dann nie mehr im Leben.«
ELFTES KAPITEL
Die große Betäubung
Nach einem Bombenangriff
Es ist heiß, es ist dunkel, es ist Tag, es ist Nacht, es ist glühend heiß, die Haut brennt, die Haare fallen aus, weiße trockene Büschel, die Lunge brennt, die Brust schmerzt beim Atmen, die Luft ist ein ausgedörrter Wüstensturm, der laut durch die Straßen heult. Man steht in Staubwolken, die Welt ist verschwunden, der Himmel schwarzviolett, hinter den Hausfassaden Feuer und Rauchwolken, die Fassaden stürzen ein, die Feuerwolken lodern hoch. Da ist keine Straße mehr, kein Straßenschild, keine Verkehrsampel, da liegen Schuttberge. Die Welt, vor Sekunden noch vorhanden, ist nur ein Erinnerungsbild.
Menschen rennen ins Feuer, retten Dinge, die sie nicht brauchen, Menschen laufen wie in Zeitlupe, kriechen auf allen vieren im Kreis, suchen Deckung, rennen plötzlich wieder los, stoßen andere in den Dreck. Menschen gehen in einer Schlange in der Mitte der Straße, um den einstürzenden Fassaden auszuweichen, stolpern über Steine, Fensterrahmen, Kinderbetten, Kleiderschränke. Schwach sichtbare Figuren, lebende Säulen aus grauem Staub stehen erstarrt, bewegen sich nicht, sie haben das Chaos gesehen, sie leben nicht mehr wirklich, ihr Leben wird nicht mehr sein, wie es einmal war, sie werden niemals davon erzählen können, der Tod ist in ihnen.
Ein Zitat aus dem schmalen Bändchen »Schweigen oder Sprechen« von Dieter Forte. Am Schluss seines Textes »Nach dem Bombenangriff« steht ein persönliches Bekenntnis:
Ich war sechs, sieben, acht, neun und zehn Jahre alt, als ich dies sah und erlebte und daran fast erstickte, und jedeNacht erlebe ich es wieder, nur durch Zufall dem Tod entkommen.
Fünf Jahre nach Kriegsende unternahm die Philosophin Hannah Arendt, die den Holocaust überlebte, weil ihr frühzeitig die Emigration gelang, eine Rundreise im zerstörten Deutschland. Es entstand ein Reisebericht, aus dem seitdem häufig zitiert wurde. Die Bewohner der Städte beschrieb sie wie Gestalten ohne Innenleben, wie Schatten oder Roboter.
Nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, daß es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von den Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, daß niemand um die Toten trauert; sie spiegelt sich in der Apathie wider, mit der sie auf das Schicksal der Flüchtlinge in ihrer Mitte reagieren oder vielmehr nicht reagieren. Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und sich damit abzufinden.
Hannah Arendt drückte
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