Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
glaubt, nicht mehr über sich bestimmen zu können. Lieber sagt er von sich: »Ich bin eben ein ängstlicher Typ. Das war schon als Kind so, im Keller. Ich hab mir während der Bombardierung immer die Finger in die Ohren gesteckt.«
Anderen Kindern, glaubt er, hätten die ständigen Luftangriffe offenbar wenig ausgemacht. Zumindest würde in den Selbsthilfegruppen, wo viele Menschen seines Alters anzutreffen seien, so gut wie nie darüber gesprochen. Wenn es denn den Zusammenhang von Kriegskindheit und Sucht gäbe, müsste das doch eigentlich häufiger in den Gruppen Thema sein, oder . . .
Karl wurde im Ruhrgebiet geboren. Sein Vater, der bereits am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, war bei der Reichsbahn beschäftigt. Nur den Polenfeldzug machte er noch mit, dann konnte er an seine alte Arbeitsstelle zurückkehren. Günstige Umstände: Er war fast den ganzen Krieg über bei seiner Familie. Der kleine Karl wuchs am Bahndamm auf, im Bereich von zwei Eisenbahnlinien– stark befahrene Strecken, wie er sich erinnert. Seiner Schwester, die nach seinen Worten aufmerksamer gewesen sei als er selbst, seien damals die vielen überfüllten Züge aufgefallen. Nach dem Krieg wusste sie, dass es die Waggons mit den Deportierten waren, die in die Vernichtungslager im Osten gebracht wurden.
Im Jahr 1942 gingen in seiner Stadt die stärkeren Bombardierungen los. In einer Entfernung von 5 Kilometer Luftlinie befanden sich Rüstungsbetriebe. In der Nähe lag eine große Flakbatterie, schwebten viele Fesselballons – so schildert er seine damalige Umgebung. Die schlimmsten Angriffe kamen gegen Kriegsende, eineinhalb Jahre lang. In der Nacht die Engländer. Am Tag die Amerikaner. Er tat, was alle Jungen taten. Er sammelte Bombensplitter und hoffte, dass möglichst viele feindliche Flieger abgeschossen würden. Einmal stürzte nicht weit entfernt eine amerikanische Maschine ab. Er lief hin, sah die verkohlten Piloten und jubelte. »So was musste sein!«, sagt er heute dazu.
Dass er offenbar doch keine ganz normale Kindheit hatte, wurde ihm eigentlich erst bewusst, als er längst selbst Vater war und sein Sohn 13 Jahre alt. Während eines Italienurlaubs hatten Diebe die Familie auf einem Parkplatz trickreich vom Auto fortgelockt. Danach waren alle Wertsachen weg. Für seinen Sohn sei dies ein einschneidendes, schlimmes Erlebnis gewesen, erzählt Karl. Es habe ihn als Vater überrascht, wie leicht diese Grundsicherheit bei jungen Menschen erschüttert werden könne. So kam ihm der Gedanke, dass seine eigene Kindheit diesbezüglich wohl doch etwas hoch dosiert gewesen sein müsse.
Karl Wolters zieht während unseres Gesprächs Bilanz. Nach seinem Abitur 1955 sei er nach Hamburg gezogen. Rückblickend meint er, dies seien seine besten Jahre gewesen. Sein Job im Rundfunk brachte dem Studenten Anerkennung und Geld. Das war die positive Seite eines gut bezahlten Schichtdienstes. »Auf der anderen Seite stand, dass dort heftig gesoffen wurde«, erzählt Karl. »Aber darüber machte ich mir damals noch keine Gedanken.«
Er hatte auch eine Verlobte. Eine Traumfrau, wie er heute sagt.Bildhübsch, Professorentochter. In ihrer Familie war er fast wie ein Sohn aufgenommen worden. Als er dann, obwohl vom Alter her längst überfällig, noch immer nicht an ein Examen dachte, fingen die künftigen Schwiegereltern an, sich Sorgen zu machen. Karl selbst aber bekam gar nicht recht mit, dass er seine Ziele aus den Augen verloren hatte und dass sich seine alkoholischen Exzesse häuften. »Mit dreißig«, so sieht er es rückblickend, »lief bei mir alles aus dem Ruder. Da nahm der Vater meiner Verlobten mich beiseite, und sagte: Du haust jetzt hier ab und machst Examen, und du bringst dein Leben in Ordnung.«
Karl sah ein, dass der Professor recht hatte. Und er schämte sich. Fluchtartig verließ er Hamburg. Er blieb zwei Monatsmieten schuldig. In Göttingen machte er ganz allein einen neuen Anfang an der Universität. Aber er blieb ein Trinker. Der Abschied vom Rundfunk machte ihm zu schaffen. Die guten Jahre waren eindeutig vorbei.
Schon in Hamburg hatte er manchmal unter unerklärlichen Ängsten gelitten und durchaus mit Erfolg dagegen angetrunken. Nun aber, allein in Göttingen, wurden sie stärker. Eines Nachts, es war im Jahr 1967, als er gerade die Kneipe verlassen hatte, erfasste ihn eine so heftige Panikattacke, dass er glaubte: »Jetzt stirbst du! Das waren plötzlich wahnsinnige Zustände.« Die Angst hatte ihn endgültig gepackt und
Weitere Kostenlose Bücher