Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Verbindung zwischen Humanwissenschaften und Naturwissenschaften gewachsen, die schon heute die Heilungschancen bei Psychotraumata enorm gesteigert hat.
Dank moderner bildgebender Verfahren wie der Positronenemissionstomografie – abgekürzt PET – können Neurobiologen in das Gehirn hineinschauen, ohne dafür die Schädeldecke öffnen zu müssen. Es ist also möglich geworden, zuzusehen, wie Gedanken durch den Kopf huschen. Heute weiß man: Keineswegs ist das Gehirn bei Abschluss der Entwicklungsphase fertiggestellt – wie ein Auto, das vom Produktionsband kommt und danach nur noch älter und unzuverlässiger wird. Nein, das Gehirn bleibt plastisch, entwicklungsfähig, also auch lernfähig.
Was der Mensch erlebt, seine Beziehungen, seine Erfahrungen mit Umwelt und Gesellschaft und wie er sie bewertet, für all dies finden sich im Gehirn Spuren. Der amerikanische Neurologe Antonio R. Damasio nennt es die Fähigkeit des Gehirns, etwas abzubilden oder zu repräsentieren. Die Nervenzellen repräsentieren Zustände oder Ereignisse, die anderswo im Körper stattfinden oder die der Mensch außerhalb seiner selbst wahrgenommen und in sich aufgenommen hat. Fazit: Erleben formt das Gehirn. Wenn Gedanken sich im Langzeitgedächtnis ablagern, bewirken sie messbare Vergrößerungen der Synapsen – jener Verbindungsstücke,durch die zwei Nervenzellen Informationen austauschen. So lässt sich zum Beispiel das Erlernen der Blindenschrift als Veränderungen im Gehirn nachweisen.
Das Fehlen der Worte
Die größte Leistung unseres Gehirns besteht im Verarbeiten von Informationen. Milliarden sogenannter Sinnesdaten strömen täglich auf uns ein. Da nur ein winziger Anteil bewusst registriert und gespeichert werden kann, müssen im Gehirn die Prioritäten herausgefiltert werden. Das Ordnen und Auswählen geschieht in verschiedenen, an der Wichtigkeit orientierten Stufen. PET-Untersuchungen haben gezeigt, dass die unter traumatischen Extremsituationen aufgenommene Information anders gespeichert wird als die üblichen »Alltagsinformationen«. Den Studien zufolge scheint die unter der Extrembelastung aufgenommene Information regelrecht im Verarbeitungssystem steckenzubleiben.
Patienten besitzen häufig keine Worte für das, was ihnen widerfahren ist. Ihre Erinnerung besteht aus Fragmenten. Bilder tauchen auf, Gerüche oder Geräusche, verbunden mit überwältigenden Gefühlen, was man ungenau als Halluzination bezeichnen könnte. Tatsächlich handelt es sich dabei um die für Traumatisierte typische Flashback-Symptomatik, die durch bestimmte Reize ausgelöst werden kann. Die Patienten werden von Erinnerungsfragmenten geradezu überschwemmt, sie können zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr unterscheiden.
Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren machten deutlich: Während eines Flashbacks ist im Wesentlichen die rechte Gehirnhälfte aktiviert; besonders gilt das für Regionen, die für das Verarbeiten emotionaler Informationen wichtig sind. Auf der linken Seite dagegen ist die Aktivität schwach, vor allem in der Umgebung des Broca-Areals, dessen Aufgabe darin besteht, Erfahrungen in Worte zu fassen. Bei schweren Traumatisierungenstehen wesentliche Funktionsbereiche der beiden Gehirnhälften nicht mehr ausreichend in Verbindung.
Es gibt also eine wissenschaftliche Bestätigung dafür, dass Patienten ihr Überflutetwerden nicht beschreiben, sondern, wie häufig beobachtet wird, nur ängstlich zitternd über sich ergehen lassen können.
Dies ist auch der Grund, warum so viele Patienten zunächst über den Kommunikationsweg Sprache nicht zu erreichen sind und warum das unbedachte »Darüberreden«, das therapeutisch gut gemeinte Ansprechen einer traumatischen Situation schädlich sein kann, weil es beim Gegenüber neue Flashbacks auszulösen vermag.
Es könnte zudem erklären, warum in der deutschen Literatur so wenig über den Luftkrieg aus der Kinderperspektive zu finden ist. Vielleicht ist der Grund für das Schweigen nicht so sehr die Scham, dass man angesichts der Holocaustopfer seine eigenen Leiden nicht sehen durfte, sondern vielmehr das Fehlen der Sprache.
»Die Traumaforschung weiß heute«, sagte Dieter Forte in einem Gespräch, das Volker Hage in seinem Buch »Zeugen der Zerstörung« veröffentlichte, »daß man vierzig, fünfzig Jahre braucht, um sich dem Schrecken zu stellen, Worte der Erinnerung zu finden, das Entsetzen zu finden, das unter dem Vergessen liegt. Es ist ja doch eine fast körperliche
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