Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Verständigung schwer, sehr schwer.«
Das Desinteresse seiner Eltern bedeutet auch für den 35-jährigen Konrad Matzke* einen ständigen Stachel. Doch mit ihnen selbst spricht er darüber nicht. Er hat es versucht. Es brachte nichts. Konrad ist ein Spätstarter. Jahrelang war er drogenabhängig, er hatte voll großartiger Pläne gesteckt, von denen er keinen einzigen umsetzte. Keine Ausbildung, kein Beruf, keine Familiengründung, nichts. Eine typische Suchtkarriere liegt hinter ihm. Inzwischen ist er clean. Er nimmt schon einige Jahre keine Drogen mehr und ist aus seinem Heimatort fortgezogen.
In Leipzig, 500 Kilometer von seinem Elternhaus entfernt, machte er einen neuen Anfang. Dort besucht er erfolgreich eine Schule für Fotografie. Natürlich ist es ihm wichtig, mit seinen Eltern über seine Arbeit zu reden. Er dachte anfangs, er mache es ihnen leicht, wenn er ihnen seine neuen Fotoreportagen zeigte. Er dachte, das kennen sie doch aus den Illustrierten, da sind sie bestimmt neugierig. – Waren sie aber nicht. Ein flüchtiges Hinschauen. Kein Kommentar. Keine Fragen. Auch nicht am zweiten Tag, worauf Konrad, wenn er abends nach seiner Anreise frustriertim Bett lag, immer wieder vergeblich hoffte. Nie hörte er von seinem Vater den Satz: »Ich hatte jetzt endlich Ruhe, mir deine Arbeit genau anzusehen . . .« Stattdessen Gespräche über Alltägliches, über Banalitäten.
Dennoch kam es vor, dass Konrad seinen Eltern Bilder schenkte. Die sah er dann bei seinem nächsten Besuch – sorgfältig auf Sperrholz aufgezogen – an der Wand hängen, und zwar in einem dunklen Flur, an dessen Ende sich heute noch Konrads Jugendzimmer befindet. Er ist das einzige Kind. Umso mehr hat es ihn geschmerzt, an seine Eltern nicht heranzukommen. Er weiß, dass sie es gern hätten, er würde sie öfter als nur dreimal im Jahr besuchen, aber sie sind klug genug, ihn nicht zu drängen. Ob sie merken, dass er sich häufig nicht wohlfühlt bei ihnen? Achselzucken. Der Sohn weiß es nicht, wie überhaupt sein Wissen über seine Eltern gering ist, vor allem über die Zeit, als sie jung waren.
Als er mit den Drogen aufgehört hatte, war es ihm wichtig geworden, die Beziehung zu ihnen zu verbessern, weshalb er ihnen gelegentlich Fragen über ihre Kindheit und Jugend stellte. Aber er habe keine Antwort erhalten, sagt er. Dann gab es die Situation, als der Vater seine Neugier nicht länger ertragen mochte und zu Konrad sagte: »Als deine Mutter und ich uns kennenlernten und klar war, dass wir zusammenbleiben, da haben wir uns in ein Zimmer eingeschlossen und uns in einer langen Nacht gegenseitig alle unsere Kriegserlebnisse erzählt. Und danach haben wir uns geschworen, dass nichts von dem Gesagten je dieses Zimmer verlässt. Nie!«
Damit weiß Konrad zumindest, dass ihnen als Kinder bei Kriegsende in Ostpreußen etwas Traumatisches passiert ist und dass nicht er schuld ist an der belanglosen Beziehung. Er sagt, es sei ihm inzwischen gelungen, sie so zu akzeptieren, wie sie sind, auch ihre »Gefühllosigkeit«, und er versuche, ihren Schmerz und ihre Angst zu verstehen. Auch sei er dabei, zu lernen, ihre verschlüsselten Liebesbeweise zu begreifen: »Zum Beispiel, wenn die Mutter begeistert für mich kocht und sie mich fragen, ob ich Geld brauche.« Auch sei es schon vorgekommen, dass er seinem Vater,ohne groß nachzudenken, wie einem guten Freund den Arm auf die Schulter gelegt und dieser die Geste erwidert habe. Konrad glaubt zu wissen, dass sein Vater sich nach mehr Nähe sehnt.
Winzige Schritte, aber wichtige. »Man hat doch als Einzelkind sowieso schon so wenig Familie«, sagt er. »Man hat doch nur diese Eltern – und es waren doch, als ich klein war, auch liebe Eltern . . .« Der Sohn hat die Hoffnung, eines Tages mit ihnen über alles reden zu können. Aber gleichzeitig, gibt er zu, sei seine größte Angst die, dass es erst ganz am Ende geschehe: dass es sich dabei um das letzte Gespräch vor ihrem Tod handeln könnte.
»Kollektive Geheimnisse«
Wie schon am Anfang dieses Buches dargestellt, weiß die Forschung noch viel zu wenig über die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Kindergeneration. Aber erst recht fehlt es an gezielten wissenschaftlichen Untersuchungen über die Auswirkungen von Kriegstraumata in den Familien, in den nachfolgenden Generationen. »Das sind kollektive Geheimnisse«, stellt die Ärztin und Traumatherapeutin Luise Reddemann mit Nachruck fest. »Und ich bin mehr und mehr davon
Weitere Kostenlose Bücher