Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
Stimme endlich.
Mit heftigem Herzklopfen drehte sich der Bischof zu der Altarwand um und blickte suchend auf die vielen heiligen Gemälde, von denen jedes für sich ein Meisterwerk war. Jesus Christus, Johannes der Täufer, der heilige Lukas mit dem Stier, Maria Magdalena, der heilige Matthäus und das Passahlamm und der heilige Markus mit dem Löwen. Schließlich wandte er sich dem großen Abendmahlsgemälde des Malers Marcos Zapata zu, das rund sechsunddreißig Quadratmeter einnahm.
Er kannte es gut. Es war immer eines seiner Lieblingsbilder gewesen. Die zwölf Apostel saßen an einem langen Tisch, Jesus in der Mitte. Jeder hatte einen Trinkbecher mit Wein, aber aufgetischt waren die traditionellen Speisen der Andenregion: Die Früchte waren Papayas, das Passahlamm war ein Chinchilla. Jesus und die Apostel hatten weiße Haut, nur Judas war dunkelhäutig, angeblich als Hinweis auf seine Herkunft. Doch es gab auch Gerede, wonach dieses Gesicht aus anderem Grund so verschattet war.
»Wo bist du, Herr?«
»Direkt vor dir«, antwortete die Stimme.
Der Bischof schwitzte stark, während er hektisch das Gemälde absuchte. Über Jesus strahlte der Stern von Betlehem durch das Fenster. Oben links sah man Jesus am Kreuz hängen und Maria Magdalena vor ihm. Der Bischof bekreuzigte sich, von der Stirn zur Brust, von der linken zur rechten Schulter, dann suchte er in den Gesichtern der Apostel. »Wo bist du, Herr?«
Er schaute nacheinander in die Züge der besorgten, ehrwürdigen Männer und hoffte verzweifelt, nicht in die schwarzen Augen des Judas blicken zu müssen. Von allen Männern in dem Gemälde sah nur Judas nicht ratsuchend zu Jesus hin. Er schaute mit stechendem Blick aus dem Gemälde heraus, dem Betrachter direkt in die Augen.
Nachdem der Bischof jedes Gesicht geprüft hatte, blieb nur noch ein Apostel übrig. Um es hinauszuzögern, fiel er betend auf die Knie, dann erst wagte er den Kontakt mit dem furchterregenden Bildnis des Judas. Lateinische Verse murmelnd, richtete er den Blick auf die sonderbar gemalten Augen, die ihn direkt ansahen und einen roten Schimmer in den Pupillen hatten.
»Ich bin der Herr, den du suchst, Priester.«
Bischof Francisco zitterte wie Espenlaub, sein Atem ging so schnell, als wäre er zweihundert Stufen hinaufgerannt. »Ich stehe dir zu Diensten«, zwang er sich zu sagen. »Was verlangst du von mir, Herr?« Angstvoll senkte er den Blick auf den Granitboden.
»Du kennst mich!«, rief die Stimme. »Ich bin der Held dieses großen Landes! Und dennoch wurde mein Name in den Schmutz gezogen und abgelehnt. Die Zeit ist gekommen, das Unrecht wiedergutzumachen, das mir angetan wurde!«
»Ja ... ich kenne dich«, murmelte der Bischof.
»Sieh mir ins Gesicht!«, rief die Stimme.
»Bitte nicht, Herr«, wimmerte Francisco.
»Sieh mir ins Gesicht!«, brüllte die Stimme jetzt.
Ein Faden Blut sickerte dem Bischof aus dem Ohr und rann am Hals hinab. Der Schmerz war unerträglich. Der Geistliche hob den Kopf, und sein tränenverschleierter Blick wurde erst klar, als die Tränen überflossen.
Judas’ dunkles Gesicht bewegte sich, als die Stimme sprach. »Ich bin Francisco Pizarro aus Trujillo, illegitimer Sohn von Gonzalo Pizarro Rodriguez de Aguilar. Ich bin der größte Entdecker und Eroberer, zum Statthalter von Peru ernannt im Jahre des Herrn 1529 durch Kaiser Karl V. Ich bin der Gründer Limas, Bezwinger der Heiden, der den Wilden Südamerikas das Christentum gebracht hat. Mein Wille ist dir Befehl von diesem Tage an, mein Kind. Gehorche mir, und all deine Träume werden wahr. Deine Aufgabe ist es, die Völker Perus zu dem einzigen rechtmäßigen Gott zu führen, zu unserem Gott, und zu seinem heiligen Sohn Jesus Christus, der zur Vergebung ihrer Sünden am Kreuz gestorben ist. Du bist mein Diener, jetzt und für immer.«
6.
C USCO , P ERU P ARQUE DE LA M ADRE O RTSZEIT : 13.35 U HR 16. J ANUAR 1908
Wilson und Bingham hatten den Proviant in braunledernen Satteltaschen verstaut und an den zwei kleineren Eseln festgeschnallt. Die anderen beiden Tiere waren größer und besser geeignet, um Reiter zu tragen. Im Regen zu stehen hatte Bingham um einiges nüchterner werden lassen, und er stellte fortgesetzt Fragen über Vilcabamba. Wo die Stadt liege, und welche Schätze dort zu finden seien. Um Binghams Interesse wachzuhalten, fütterte Wilson ihn mit Superlativen über die Pracht der untergegangenen Stadt und schilderte ihm, welch außergewöhnliche Bedeutung seine bevorstehende
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