Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)
den Knoten an den Beinen der Elster. Er wollte dem Tier keine Schmerzen zufügen und so dauerte es eine Weile, bis er es befreit hatte. Die ganze Zeit über wehrte sich der Vogel nicht, sondern blieb ergeben liegen. Sven wartete, aber die Elster machte keine Anstalten davonzufliegen.
„
Der Vogel braucht bestimmt etwas zu essen und zu trinken
“, überlegte er. „
Vielleicht finde ich ja was im Garten.
“
Das Tor war mit einem Schloss gesichert, aber Sven hatte keine Mühe, darüber hinweg zu klettern. In dem aufgeräumten Garten fand er schnell, was er brauchte. Mit einer kleinen Schaufel buddelte er die lockere Erde eines Beetes um und sammelte mit spitzen Fingern die etwas schleimigen, sich windenden, Regenwürmer ein. Es gab hier ein kleines Gartenhäuschen, an das sich außen ein paar Regentonnen schmiegten. Darüber hing ein ausgedienter Kochtopf an einem Nagel. Sven füllte das Gefäß und säuberte die Würmer in dem Wasser, dann füllte er den Behälter erneut. Den Topf konnte er unter der Pforte hindurchschieben und die Ringelwürmer ließ er vorsichtig von oben auf die andere Seite fallen. Schnell kletterte Sven über das Hindernis und sammelte sie wieder ein.
Halb rechnete der Junge damit, dass der Vogel verschwunden sein würde. Aber die Elster lag noch auf dem Boden und schaute ihn mit ihren klugen Augen an. Gierig verschlang sie das Futter, das Sven ihr hinhielt. Um sie zu tränken, musste Sven die Elster auf den Schoß nehmen und den Topf tief halten, dann klappte auch das.
„Was mache ich denn jetzt mit dir?“ Grübelnd schaute Sven auf das Tier. „Ich kann dich ja nicht einfach hier liegen lassen. Sonst wirst du noch von einer Katze oder einem Fuchs gefressen.“
Vorsichtig strich Sven über den hübschen Kopf des Vogels. „Ich nehme dich erst einmal mit.“
Es dauerte eine Weile, bis er aus seiner Jacke eine Art Beutel gemacht hatte, in dem er den Vogel tragen konnte. Ein Ziel hatte der Junge noch immer nicht, aber hier bleiben mochte Sven auch nicht. So ging er weiter, seinen neuen Freund, die Elster, behutsam tragend.
Ob seine Eltern wohl schon gemerkt hatten, dass er weg war? Sven glaubte das nicht. Seine Mutti hatte sicher nicht in seinem Zimmer nachgeschaut und Papa war wahrscheinlich im Gästezimmer verschwunden, in dem er schon ziemlich lange die Nächte verbrachte. Sven wünschte sich, er hätte einen Freund gehabt, mit dem er hätte reden können. Aber nach dem Umzug kannte er noch nicht viele Kinder aus seiner Klasse oder der Nachbarschaft gut genug. Wenn doch nur seine Omi noch leben würde!
So sann der kleine Junge nach, achtete nicht darauf, wo ihn seine Füße hinführten und schlenderte weiter. Minuten reihten sich aneinander wie Perlen auf einer Schnur und fügten sich zu Stunden zusammen. Längst hatte Sven die Gärten hinter sich gelassen und lief zwischen ausgedehnten Feldern entlang.
Sein Weg, der immer schmaler geworden war, hatte ihn an den Rand eines Waldes gebracht. Sven blieb stehen. Dieser Wald wirkte so bedrohlich und düster auf ihn, dass er schon umkehren wollte. Da bemerkte er links von sich ein kümmerliches Licht. Misstrauisch guckte Sven genauer hin. Der schwache Lichtschein fiel aus dem Fenster einer Holzhütte, die man gegen den finsteren Hintergrund des Waldes kaum erkennen konnte. Ein schmaler Trampelpfad, der von üppigem Gras gesäumt wurde, führte zu der Hütte. Sven zögerte nicht lange. Mutig ging er auf das Gebäude zu. Wenn ihm etwas nicht behagte, könnte er ja wieder umdrehen und weglaufen. Nur einen kleinen Blick wollte er durch das Fenster werfen.
Er hatte ganz bestimmt keinen Lärm gemacht, aber als er nur noch ein paar Meter von der Hütte entfernt war, wurde die Tür aufgerissen. Sven erkannte die Umrisse einer Frau und blieb stehen. Die Frau machte einen Schritt nach vorn und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Eine schwarze Katze strich um ihre Beine und hockte sich dann neben sie.
„Ist da jemand? Hallo?“ Die Stimme klang angenehm und freundlich.
„Ich hab hier einen verletzten Vogel!“, platzte es aus Sven heraus. Das war ihm peinlich, weil er glaubte, etwas Dummes gesagt zu haben.
„Nun, dann bist Du bei mir genau richtig, junger Mann“, meinte die Frau fröhlich. „Komm rein, nur keine Angst. Ich bin übrigens die Moni.“
Der Junge folgte der Aufforderung und verschwand in der Hütte. Er konnte jetzt erkennen, dass die Frau schon eine ältere Dame war, die ihn freundlich anblickte und hinter ihm die
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