Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)
trauten sich nicht, zu hoffen. Oder sie stritten miteinander, überhäuften sich gegenseitig mit Vorwürfen und schoben dem anderen die Schuld in die Schuhe. Sven lag bleich und unnahbar zwischen ihnen und wirkte in dem großen Bett winzig. Einzig die Geräte zeigten an, dass er noch lebte.
~*~
Eine der Nächte verbrachten Mike und Sven in einer Hängematte auf dem Piratenschiff. Das Boot schaukelte sanft auf den Wellen. Das Gefühl, sachte hin und her zu schwingen, gefiel Sven. Die leisen, glucksenden Geräusche des Wassers ließen ihn einschlummern. Seit Sven hier war, hatte er nichts Böses erlebt, er war noch nie zuvor so glücklich und sorgenfrei gewesen, aber in dieser Nacht hatte er einen schlimmen Traum.
Er träumte, er befände sich in einem Krankenzimmer. Er konnte sich in einem Bett liegen sehen und es schien, als ob er schliefe. Seine Eltern waren mit ihm im Zimmer. Zuerst redeten sie nicht miteinander und Sven hatte das gleiche bitterkalte Gefühl wie so oft, wenn er zwischen ihnen am Küchentisch gesessen hatte. Sven wurde von dem kleinen Körper im Bett angezogen und verschwand darin. Dann begannen seine Eltern zu streiten und bald brüllten sie sich gegenseitig an. Sven schlug die Augen auf und sah ihnen bei der Auseinandersetzung zu. Seine Eltern bemerkten ihn nicht. Sie waren nur mit sich selbst beschäftigt. Unendlich traurig schloss Sven seine Augen und verließ seinen Körper wieder. An dieser Stelle endete sein Traum, und Sven erwachte.
Den ganzen Tag über blieb er nachdenklich und betrübt. Ohne Mike setzte er sich an den See, in dem das Piratenschiff angelegt hatte. Immer wieder sah er die Szene aus seinem Traum vor Augen – wenn es ein Traum gewesen war. Sven glaubte zu verstehen, warum die Hexe Moni ihn ins Land der vergessenen Kinder gebracht hatte. Er dachte, dass alle Kinder hier in einer ähnlichen Lage sein müssten. Vielleicht hatten sie einen Unfall gehabt und lagen genau so wie er in einem Krankenhaus in tiefer Bewusstlosigkeit. Oder sie hatten einen Tee von Moni bekommen. Sven wollte ganz bestimmt nicht mehr zurück. Das Land schenkte ihm alles, was er haben wollte und er hatte sogar einen tollen Freund gefunden. Und doch – irgendetwas fehlte ihm. Er kam nur nicht darauf, was es war.
Abends ging er zu Mike zurück. Sven erzählte seinem Freund von dem Traum, den er in der vergangenen Nacht gehabt hatte und ein kleines bisschen von seinen Gedanken. Sie schwiegen eine Weile. Dann schliefen die Jungs ein und diesmal kam kein Traum zu Sven.
Es war nur ein paar Tage später. Er spielte mit Mike gerade ein Murmelspiel. Krax war bei ihnen und versuchte, ihnen die hübschesten Klicker zu stibitzen, da wurde Sven auf eine Person aufmerksam, die auf sie zuging. Es war eine Frau. Sven kam sie vertraut vor – und dann erkannte er sie: Es war seine Omi!
Die Murmeln in seiner Hand entglitten ihm und fielen vergessen in den Sand.
„Omi!“, rief Sven voller Freude und sein Gesicht strahlte. DAS war es, was er vermisst hatte.
Im Gegensatz zu Mike konnte Krax die ältere Dame sehen. Sven wurde von seiner Oma gedrückt, geherzt und geküsst und er umarmte seine Omi, als wollte er sie niemals wieder loslassen. Dann erschien ein Licht, hell und warm und einladend. Da wollte Sven hin, unbedingt, zusammen mit seiner geliebten Omi. Aber vorher wandte er sich noch Mike zu.
„Ich muss jetzt gehen, Kumpel.“ Sven schenkte seinem Freund ein umwerfendes Lächeln. „Wenn du willst, irgendwann einmal, wenn du die Nase hier voll hast, hole ICH dich ab.“
Arm in Arm ging er mit seiner Oma, wurde durchscheinend und verschwand. Krax blieb noch bei Mike und tröstete ihn, so gut das eine Elster vermochte.
~*~
Zur gleichen Zeit als Sven in das verheißungsvolle Licht ging, unterbrach Moni ihre Gartenarbeit und blickte gen Himmel. Dann ging sie schweren Schrittes in ihre Hütte und entzündete eine Kerze für einen kleinen Jungen.
Im Krankenhaus, im Beisein der sich ankeifenden Eltern, machte der Junge seinen letzten Atemzug. Die Geräte schlugen Alarm und riefen Arzt und Hilfspersonal herbei, die alles versuchten, was möglich war. Aber es war zu spät. Der kleine Sven war fort.
Verloren
Ich will mein Gesicht im Spiegel sehen. Mit dem feuchten Handtuch wische ich die kondensierten Tropfen von der Glasscheibe. So lange reibe ich, bis die Schlieren verschwinden. Das ist mein Gesicht? Geahnt habe ich es. Das Leben auf der Straße hinterlässt Spuren. Die Form ist noch rund, natürlich. Aber
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