Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)
die Wangen sind eingefallen. Mit der Zungenspitze fahre ich über die scharfen Zinnen meiner verheerten Backenzähne.
Müde und schlaff ist alles. Die Brille sitzt schief auf meiner Nase. Mein nasses Haar hängt ergraut an meinem Kopf. Der Spiegel beschlägt erneut und versteckt gnädig mein Antlitz vor mir. Das große Handtuch, das ich um mich geschlungen habe, ist weich und duftet nach Sommer. Ich genieße das Gefühl der Sauberkeit. Die des Frotteestoffes und die meines Körpers. Zweimal, dreimal habe ich mich eingeseift und vieles habe ich dann abgespült.
Dünn bin ich geworden. Als ich auf die Straße ging, war ich überall rund. Mir war nicht bewusst, wie viel Gewicht ich verloren haben muss. Eckig bin ich, welk. Knochen sind sichtbar, haben sich aus dem dahingegangenen Schutzwall des Fleisches hervorgehoben. Wie leere Taschen hängen meine Brüste an mir. Nein, mein Körper ist nicht mehr schön.
Im Bad des Unbekannten stehe ich, habe mich mit seinem Shampoo gewaschen, benutze sein Handtuch, werde gleich die frischen Sachen anziehen, die er für mich bereitgelegt hat. Seine Kleidungsstücke. Überredet hat er mich, mit ihm zu kommen. Gelockt mit dem ersehnten Bad. Es ist so schwer, gepflegt zu bleiben, seine Selbstachtung zu behalten, wenn man keine Bleibe hat. Der junge Mann war sehr höflich zu mir. Ich bin ihm gefolgt, wie ein Schaf seinem Herrn zur Schlachtbank. Jetzt frage ich mich, ob ich einen Fehler gemacht habe. Vielleicht ist der freundliche Mann ein Psychopath, ein Sadist? Vielleicht werde ich für die Körperpflege einen hohen Preis zahlen müssen.
Angezogen bin ich nun, die Kleidungsstücke sind mir zu groß. Das stört mich nicht. Mein feuchtes Haar ist zu einem Zopf geflochten, der, sich nach unten hin verjüngend, auf meinem Rücken liegt. Es lässt sich nicht länger hinauszögern. Ich verlasse sein Bad. Mit aller mir zur Verfügung stehenden Würde gehe ich auf die Suche nach dem Mann.
Die Wohnung ist sauber und aufgeräumt, die Türen zu den Zimmern sind geöffnet. Von dem Flur aus, in dem ich stehe, überblicke ich das Schlafzimmer und einen Arbeitsraum, dessen Wände hinter übervollen Bücherregalen versteckt sind. Dort ist er nicht. Gleich mir gegenüber ist die Wohnungstür; ich könnte einfach gehen. Ich wende mich nach rechts und finde ihn in der offenen Küche, die durch eine Theke optisch vom Wohnraum getrennt wird. Er schneidet Schnittlauch in feine Röhrchen. Auf dem Herd brodelt Tomatensuppe in einem Kessel und auf zwei Tellern, die auf einer Wärmeplatte stehen, sind Omeletts mit frischen Champignons und Kräuter-Jogurtsoße angerichtet. Darauf streut er die Schnittlauch-Röllchen. Wann ich zuletzt etwas Warmes gegessen habe, weiß ich nicht. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, ich kann mich nicht dagegen wehren. Er bemerkt mich an der Tür stehend.
„Bitte, setzen Sie sich doch.“ Er hält das Messer noch in der Hand, deutet damit auf die hohen Hocker, die wie Wächter aufgereiht an der Theke stehen. „Das Essen ist gleich fertig.“
Wortlos erklimme ich einen der Sitzplätze, bette meine Hände ineinander gelegt in meinen Schoß. Anstarren will ich den Mann nicht, zwinge meine Augen dazu, aus dem riesigen Fenster zu schauen. Es nimmt die volle Breite des Zimmers ein, wird nur von der Schiebetür unterteilt, die auf den Balkon hinausführt. Von hier oben kann ich die Silhouette der Stadt sehen, dieser großen Stadt, in deren Anonymität ich mich seit drei Jahren verkrieche. Das Wahrzeichen dieser Stadt, der alles überragende Dom, sieht so nah aus. Fast, als könnte ich ihn mit der Hand berühren.
Mein Blick gleitet hinüber in den Wohnbereich. Er wird von einem riesigen Flachbildschirm, der an der Wand befestigt ist, und beachtlichen Lautsprechern dominiert. Aber in der spiegelnden Fläche der Fenster beobachte ich den Mann. Er holt je zwei große und tiefe Teller aus dem Hängeschrank, füllt die tiefen mit der Suppe auf, gibt einen Klecks geschlagener Sahne hinein und garniert mit frischem Basilikum. Der Duft dringt aromatisch in meine dafür empfängliche Nase.
Der junge Mann legt Platzteller und Teller, Besteck und eine Stoffserviette vor mir ab. Sein Gedeck bleibt auf der Arbeitsplatte. Aus dem Backofen holt er mit Käse überbackenes Weißbrot, arrangiert den für mich gedachten Anteil auf einem Dessertteller, stellt ihn in meine Reichweite. Dann setzt er sich auf einen Schemel, sitzt tiefer als ich. Er macht eine einladende Geste und beginnt zu
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