Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)
essen.
Ich tauche den Löffel in die rote sämige Flüssigkeit, probiere. Es schmeckt gut, richtig gut. Mir fällt es schwer, meine Gier zu zügeln. Zwischendurch werfe ich kurze Blicke auf mein Gegenüber. Er isst konzentriert mit Genuss. Auf Mitte zwanzig schätze ich ihn. Er sieht genau so adrett und ordentlich aus, wie seine Wohnung. Es ist mir ein Rätsel, aus welchem Grund er ausgerechnet mich aufgelesen hat. Meine Haltung, meine Gleichgültigkeit hätte ihn abschrecken müssen. Er hat mich gezielt ausgewählt, das habe ich gespürt. Vorsichtig kaue ich das Brot. Mein Teller ist fast leer, da streikt mein Körper, beschert mir einen Schwächeanfall. Der Magen ist das warme Essen nicht gewohnt; ich breche in Schweiß aus. Langsam esse ich weiter, bis der Anfall überwunden ist, tupfe den Rest der Tomatenbrühe mit Brot auf.
Der tiefe Teller wird gegen den flachen mit dem Omelett ausgetauscht. Bisher hat er nichts gesagt; auch ich habe geschwiegen. Ich brauche Mauern um mich. Schweigsamkeit und Passivität haben meine Leibesfülle ersetzt, die mich vor Verletzungen schützen sollte und es nicht getan hat. Geruhsam widme ich mich der Eierspeise. Sie schmeckt köstlich. Seinen forschenden Blick bemerke ich, auch wenn ich auf das Essen schaue.
Seine Stimme klingt schüchtern, unsicher, als er mich anspricht. „Möchten Sie etwas trinken, Frau Schmitz?“
Meine Augen bleiben auf den Teller gerichtet, fixieren einen Pilz, als ob er das Wichtigste auf der Welt wäre. Ich kann nicht mehr schlucken, weiß plötzlich nicht mehr, wie das geht. Woher kennt er meinen Namen? Wie hat er mich entdeckt? Mit größter Selbstbeherrschung gelingt es mir, die Fähigkeit des Schluckens wieder zu erlangen. Meine Stimmbänder benutze ich selten, ich muss mich räuspern.
„Nein, danke“, erwidere ich fest. Dann lüge ich: „Mein Name ist nicht Schmitz.“
Schweigend essen wir, bis wir fertig sind. Er räumt ab, bittet mich, eindringlich, im Wohnbereich Platz zu nehmen. Meine vergessen geglaubte Neugier macht mich fügsam. Die Sofalandschaft ist bequem. Fast entspanne ich, als er La Mer von Debussy auflegt. Den Kaffee, den er mir anbietet, lehne ich ab. Mit Bedauern; ich würde ihn nicht vertragen.
Er verlässt das Wohnzimmer, kommt wieder mit einem Stapel Bücher. Meinen Büchern. Ich habe sie geschrieben. Meinen letzten Roman legt er mit der Rückseite nach oben vor mich hin. Das Foto ist noch aus glücklichen Zeiten, zeigt mich in die Kamera lächelnd. Eine Botschaft aus einem anderen Leben. Wie konnte er mich darauf erkennen? Mit meinem Spiegelbild hat es wenig Ähnlichkeit. Leugnen kann ich nicht mehr.
„Was willst Du von mir?“ Meine Stimme klingt rau, zurückweisend.
Der junge Mann, der nicht einmal halb so alt ist wie ich, blickt zu Boden. Sammelt Mut, eine Antwort, sich selbst - etwas davon oder alles. Er schlägt seine blauen Augen zu mir auf, schaut mich offen an. Verletzbarkeit sehe ich und Enttäuschung über meine Reaktion.
„Ich möchte mich bei Ihnen bedanken.“
Seine Antwort macht mich stumm. Ich verstehe nicht. Er gibt mir mein erstes Buch in die Hand. Ein Kinderbuch. Geschrieben habe ich es, als ich dreiunddreißig gewesen bin. Es sieht aus, als wäre es hundertmal gelesen worden. Er hat Zeichnungen darin hinterlassen und die Vorlagen mit Farbe gefüllt, hat dabei über die Linien gemalt. Vorne steht mit einer spitzen Kinderhandschrift: Das Buch gehört Sebastian Köhler. Einige der Seiten liegen lose im Buch, eine ist eingerissen. Dieses Buch ist sehr geliebt worden. Ich will das nicht – aber es rührt mich.
„Bist Du das?“ Meine Stimme ist bewusst barsch, ich tippe mit dem Finger auf die Kinderschrift. Gebe ihm das Buch zurück.
Er nickt, blättert die Seiten behutsam um, lächelt. Es ist ein trauriges, wehmütiges Lächeln.
„Meine Mutter hat es mir geschenkt, als ich im Krankenhaus lag. Da war ich sechs. Ich hatte Leukämie.“ Er erzählt nichts von den grausamen Schmerzen, die er gehabt hat, verschweigt die Angst, die ihn begleitet haben muss. „Ihr Buch, Frau Schmitz, hat mich gerettet. Nur durch Ihre Geschichten habe ich alles ausgehalten, habe durchgehalten. Sie sind so spannend und lebendig, stecken so voller Liebe und Optimismus. Ich habe alles um mich herum vergessen, wenn ich sie gelesen habe. Am liebsten mochte ich den listigen Käpt’n Füchschen, der aus jeder schlimmen Situation einen Ausweg fand. So wollte ich auch sein. Mutig und stark.
Immer, wenn es mir besonders
Weitere Kostenlose Bücher