Die vergessenen Kinder: Herzensgeschichten (German Edition)
schlecht ging, habe ich daran gedacht, wie Käpt’n Füchschen damit umgehen würde. Deswegen habe ich nie aufgegeben.“
Seine Worte treffen mich tief, ganz tief, gleiten durch meine Mauern wie durch warme Butter, erschüttern mein Innerstes. Scham überfällt mich in einer heißen Woge, Scham vor dem kleinen todkranken Kerl, der die Zuversicht nie verloren hat.
Liebe, Glaube, Hoffnung. All dies ist mir abhanden gekommen, ist mit meinem Mann vor drei Jahren begraben worden. Unvorbereitet traf es mich, von ihm Abschied nehmen zu müssen. Die Trauer wollte ich nicht spüren, wollte nicht weiter machen ohne ihn. Für das Mitgefühl und die Sorge meiner Freunde um mich, die Hilfe, die sie mir anboten, war ich taub und blind, versteinert geradezu. Es musste viel organisiert werden. Das schaffte ich nicht. Wenigen Vertrauten erklärte ich, ich würde verreisen. Ich verschloss mein Haus, übergab die Schlüssel einer Nachbarin und ging. Einfach so. Suchte Vergessen, vielleicht den Tod. Verkroch mich in dieser Großstadt. Jahre, über die ich nicht reden will, niemals reden werde.
Den jungen Mann, Sebastian, nehme ich deutlich wahr, so klar, wie schon lange nichts mehr. Er legt auf sich Wert, seine Kleidung, sein Äußeres. Die Fingernägel sind manikürt, er zupft seine Augenbrauen, jedes Haar seiner Frisur liegt an seinem Platz. Seine Haut ist wie Milch, die dünnen blauen Äderchen an den Schläfen sind sichtbar. Durch meine Vorstellungskraft aber sehe ich den kleinen Jungen vor mir, der so hart gekämpft und den Tod besiegt hat.
„Frau Schmitz, geht es Ihnen nicht gut?“ Seine Stimme ist besorgt.
„Doch … doch … es ist alles in Ordnung.“ Das stimmt und stimmt gleichzeitig nicht. Da passiert etwas in mir, es macht mir Angst. Die Versteinerung zeigt erste Risse. Mein Gesicht ist nass, ich staune darüber, behalte die Zähren wie eine Trophäe auf meiner Haut. „Bitte, Sebastian, erzählen Sie weiter.“
~*~
Wieder stehe ich vor dem Spiegel und betrachte mich. Seit vier Wochen wohne ich bei Bastian. Es hat noch viele Gespräche gegeben, gemeinsam und einsam vergossene Tränen. Stück für Stück zieht er mich ins Leben zurück. Ich wage es, zu fühlen, zu vertrauen. Und zu schmecken. Zugenommen habe ich. Meine Wangen sind etwas voller geworden. Bastian ist Friseurmeister. Er hat einen gut gehenden eigenen Salon. Nur von ihm lasse ich mir die Berührungen gefallen, die notwendig sind, um mich vorzeigbar zu machen. Eine neue Frisur habe ich, sehr modern. Das Bild im Spiegel ist ungewohnt, zeigt mir ein winziges Lächeln.
Gestern habe ich Kontakt zu meiner Lektorin und besten Freundin aufgenommen. Das Telefonat dauerte lange und war zuerst schwierig, aber sie ist noch immer meine beste Freundin. Sie habe ich nicht verloren. Die Türglocke geht. Das ist sie.
Andrea verbirgt ihr Entsetzen über meine Erscheinung nicht; ich bin weit von meinem früheren Ich entfernt. Lachend und weinend fallen wir uns in die Arme. Wir reden und reden: Trauriges, Wichtiges, Belangloses und Witziges. Es fällt mir schwer, aber ich bitte Andrea um Hilfe. Als ich damals fortgegangen bin, habe ich ein Chaos hinterlassen. Ich muss wissen, ob noch etwas übrig ist, wie schlimm es mit allem steht.
Bastian und Andrea werden mit mir all die Gänge zu den Ämtern und Stellen machen, vor denen ich mich so fürchte, sie werden mich begleiten. Das hätte Andrea schon damals gemacht, wenn ich es zugelassen hätte.
~*~
Ein gutes halbes Jahr ist es her, seit ich bei Bastian ausgezogen bin. Mein Haus habe ich verkauft und besitze nun eine kleine Eigentumswohnung in meinem Heimatort. Es war nicht so schlimm, wie ich vermutet hatte und es geht mir finanziell gut. Vieles habe ich mit Hilfe von Andrea und Bastian geregelt. Mit den Dingen, die noch zu erledigen sind, komme ich allein zurecht. Einen kleinen Hund habe ich mir zugelegt. Einen Streuner, so wie ich.
An meinem früheren Heim bin ich mit dem Hund einmal vorbei gegangen. Eine Familie mit Kindern wohnt jetzt dort. Es hat mich gefreut zu sehen, dass die Mauern mit neuem Leben erfüllt sind. Zur gleichen Zeit war ich traurig. Das Grab meines Mannes habe ich noch nicht besuchen können. Es ist noch zu schmerzhaft. Irgendwann schaffe ich auch das noch.
Leben. Einfach nur leben; manchmal ist es noch schwer für mich. Mit Bedacht nähere ich mich anderen Menschen. Der kleine Streuner hilft mir dabei. Ich habe wieder angefangen zu schreiben. Ein Kinderbuch.
Bastian kommt mich alle paar
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