Die vergessenen Schwestern (Hackenholts erster Fall) (German Edition)
Dinge wieder weggelegt.
An dem Abend jedoch, an dem sie vor dem schwarzen Bild aus ihrer Trance erwacht war, hatte sie alles stehen und liegen lassen und sich mit den Tagebüchern in ihr Bett verkrochen. Sie hatte sich ihrer Schwester nahe fühlen wollen und die ganze Nacht hindurch gelesen.
Am nächsten Morgen war sie völlig erschöpft gewesen. Sie hatte in den letzten zwölf Stunden die grauenhaften Dinge durchlebt, die Lila das Leben gekostet hatten. Endlich hatte sie die Zusammenhänge begriffen. Sie hätte gerne um ihre Schwester geweint, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt.
In jener Nacht hatte eine Veränderung ihrer Gefühlswelt stattgefunden. Zunächst hatte sie in sich eine unbeschreibliche Leere gespürt, die sich dann jedoch mit Trauer füllte und allmählich in Wut umschlug. Am Schluss gab es jedoch nur noch das Gefühl, dass sie nichts mehr empfand. Ein Teil in ihr war abgestorben.
9
Der Montagmorgen präsentierte sich mit einer dicken Wolkendecke. Hackenholt saß an seinem Schreibtisch und sah die Unterlagen durch, die er am Vortag aus Sieberts Wohnung mitgenommen hatte. Nachdem er eine grobe Vermögensaufstellung angefertigt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit den ausgedruckten Artikeln zu, die Berger in der Zwischenzeit über Patricia Teck aus dem Internet gezogen hatte – nach ihrem gestrigen Auftritt, der so gar nicht zu ihrem ehemaligen Beruf passen wollte, hatte der Hauptkommissar den jungen Kollegen mit einer kleinen Recherche betraut.
Die Zeitungsnotizen schienen alle einen völlig anderen Menschen zu beschreiben, als die Frau, die er am gestrigen Tag kurz kennengelernt hatte: Patricia Teck wurde als toughe und zielgerichtet Chefin der Bewährungshilfe beschrieben. Hackenholt hatte sie dagegen nervös, unsicher, richtiggehend ängstlich erlebt, froh darüber, sich zurückziehen zu können. Er blätterte zur letzten Seite des dünnen Stapels und las den dortigen kurzen Artikel. Es war eine Pressemitteilung vom Dezember des vorherigen Jahres, in der bekanntgegeben wurde, dass die bisherige Leiterin der Bewährungshilfe mit sofortiger Wirkung aus gesundheitlichen Gründen in Ruhestand ging. Als Nachfolger wurde ein Dr. Jungkunz benannt. Das war nicht gerade aufschlussreich.
Als Hackenholt ins Besprechungszimmer kam, erwarteten ihn Berger, Stellfeldt und Mur angeregt diskutierend.
»Wo ist Ralph?«, fragte der Hauptkommissar in die Runde.
»Wie ich ihn kenne, ist er noch drüben im Sozialraum und kocht Kaffee«, brummte Mur.
Genau in dem Augenblick rauschte Wünnenberg mit seiner Thermoskanne und einer Handvoll Tassen ins Besprechungszimmer. Hackenholt stellte Sophies Karton mit den Muffins auf den Tisch und öffnete ihn. Ein leckerer Duft strömte sofort aus der Schachtel.
»Mensch, du verwöhnst uns aber«, staunte Mur.
»Wo sind die denn her?«, fragte Stellfeldt mit vollem Mund. »Die sind viel besser als die aus der Kantine.«
»Jetzt sag schon!«, drängte auch Mur. »Meiner ist mit Karotten und Haselnüssen und irgendeinem Gewürz, auf das ich noch nicht komme. Eine superleckere Mischung.«
Wünnenberg, der gerade zugreifen wollte, zog schnell die Hand wieder zurück. »Bist du jetzt zum Öko mutiert?«, fragte er Hackenholt entsetzt.
»Quatsch«, mischte sich Stellfeldt wieder ein, »meiner ist völlig normal, mit Ananas und Kokosflocken.«
Endlich nahm sich auch Wünnenberg einen der kleinen Kuchen.
»Weißt du«, sagte der Hauptkommissar in unschuldigem Ton, »eigentlich sind die alle für dich. Nein, das stimmt nicht, nicht für dich, sondern wegen dir.«
Wünnenberg blickte erstaunt auf.
»Das ist Frau Rhoms Friedensangebot. Ich finde, man kann es ihr nicht abschlagen.« Dann erzählte der Hauptkommissar, was gestern noch passiert war, nachdem er sich von Berger verabschiedet hatte. Dabei verkürzte er seinen Aufenthalt in Sophies Wohnung auf ein paar unbedeutende Minuten, erzählte aber ausführlich von dem Erlebnis, für einen Einbrecher gehalten worden zu sein. Alle lachten.
»So, jetzt aber zum ernsten Teil der Sache«, mahnte er danach. »Wie ist es gestern bei Sieberts Geschwistern gelaufen?«
»Die Schwester und ihr Mann waren derart unkooperativ, dass wir sie für heute um elf ins Präsidium bestellt haben«, ergriff Wünnenberg das Wort. »Weil mir ihr Verhalten derart merkwürdig vorkam, habe ich mich gestern Nachmittag noch an den Computer gesetzt und die beiden überprüft. Über Herrn Runge gibt es nichts, aber bei seiner Frau bin ich
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