Die vergessenen Schwestern (Hackenholts erster Fall) (German Edition)
Kuvert abgesucht, es aber nirgendwo gefunden.«
»Sofern ihm nicht jemand persönlich den Brief gegeben hat, müsste er an Günther Degels Adresse geschickt worden sein«, murmelte Hackenholt. Plötzlich stand er auf und lief in sein Büro zurück, um Sieberts Telefonregister zu holen. Als er wieder zurück war, blätterte er langsam und sorgfältig alle Seiten durch. Es gab mehrere Namen, die mit »C« begannen. Manche waren Männernamen, andere Adressen lagen außerhalb Bayerns, zwei waren jedoch zweifelsfrei Frauennamen aus Nürnberg.
»Gehst du da jetzt nicht ein wenig zu schnell vor?«, wandte Mur ein. »Ich finde, wir sollten erst einmal versuchen, das Kuvert zu finden. Dann zeigt sich vielleicht, wo der Brief aufgegeben wurde.«
Hackenholt wiegte zweifelnd den Kopf hin und her. »Glaubst du allen Ernstes, dass jemand aus Hamburg in Frage kommt?«
Mur musste zugeben, dass das auf den ersten Blick etwas weit hergeholt schien. Hackenholt war hin und her gerissen. Sie konnten Günther Degel nach Frauen mit einem C-Namen fragen, die sowohl seinen Bruder als auch Siebert gekannt haben. Sie könnten ihm gegebenenfalls auch den Brief zeigen. Andererseits konnten sie nicht darauf vertrauen, dass Degel sie nicht anlog. Vielleicht würde er behaupten, weder den Namen noch die Schrift zu erkennen, obwohl das Gegenteil der Fall war. Wer konnte schon ahnen, zu was dieser Mann fähig war?
Hackenholt beschloss, Degels Vernehmung für heute abzubrechen. Stattdessen würden sie ihn für morgen erneut vorladen. Mur und ein weiterer Kollege von der Spurensicherung sollten ihn nach Hause fahren und dort alle Papierkörbe und Mülltonnen nach dem fehlenden Kuvert durchsuchen.
Hackenholt ging zusammen mit Wünnenberg erneut die Eintragungen in Sieberts Notizbuch durch. Dieses Mal schrieben sie die Namen, sorgfältig getrennt nach Geschlecht und Wohnort, heraus.
»Es könnte sich aber auch um einen Spitznamen handeln«, gab Wünnenberg zu bedenken. »Oder was ist zum Beispiel mit Carina Jakobi? Die wird in dem ganzen Büchlein nirgendwo erwähnt.«
Das konnte Hackenholt nicht abstreiten. Er seufzte. Sie hatten zwar einen wichtigen Hinweis erhalten, er konnte sie aber auch in eine völlig falsche Richtung führen. Dennoch entschied der Hauptkommissar, die zwei Frauen aus Sieberts Telefonverzeichnis sofort zu überprüfen.
Die erste Dame, zu der sie fuhren, hieß Claudia Bohn und wohnte in der Südstadt. Nachdem die Ermittler fast zehn Minuten damit vertan hatten, einen Parkplatz zu suchen, fand Wünnenberg endlich eine Lücke, in die er den Dienstwagen quetschte.
Das Haus, in dem Frau Bohn wohnte, sah heruntergekommen aus. Da die Haustür offenstand, stiegen die beiden Beamten direkt in den zweiten Stock hinauf. Auf ihr Läuten öffnete nach ein paar Sekunden ein kleiner Junge die Wohnungstür. Hackenholt fragte ihn nach seiner Mutter. Der Knirps, der gerade mal im Kindergartenalter war, drehte sich jedoch nur um und rannte weg. Als Nächstes erschien ein zweites Kind, ebenfalls ein Junge, aber etwas älter als der Erste, vielleicht im Grundschulalter. Auch er beäugte die Beamten, um dann wieder im Inneren der Wohnung zu verschwinden. Schließlich kam ein dritter Junge an die Tür. Er war hochaufgeschossen, seine Arme und Beine waren für seine Kleider zu lang geworden, aber sein Gesicht wirkte noch kindlich.
»Was wollen Sie?«, fragte er abweisend.
Hackenholt stellte sich und seinen Kollegen vor und zeigte ihm seinen Dienstausweis.
»Wow! So was gibt es ja wirklich.« Der Junge riss erstaunt die Augen auf.
Hackenholt war nicht ganz klar, ob mit so was sein Dienstausweis oder sein Beruf gemeint war. Er überging die Bemerkung. »Wir müssen mit deiner Mutter sprechen. Ist sie zu Hause?«
»Sie hat sich hingelegt. Da kommt sie nicht so schnell wieder hoch. Warten Sie einen Moment.« Der Junge wandte sich ab. Zum Glück kam in dem Augenblick aber endlich Frau Bohn selbst.
Nun wurde Hackenholt auch klar, warum sie nicht so schnell wieder auf die Beine kam, wenn sie sich einmal hingelegt hatte: Sie war hochschwanger. Ihrem Bauchumfang nach zu urteilen, würde es nicht mehr lange dauern, bis das vierte Kind auf die Welt kam.
»Es tut mir sehr leid, dass wir Sie ganz umsonst gestört haben. Es muss sich wohl um eine Verwechslung handeln«, murmelte der Hauptkommissar, dem bei ihrem Anblick sofort klar war, dass er nicht vor der potenziellen Täterin stand, da sich die Frau zweifelsohne nicht mitten in der Nacht
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