Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
Taschentuch hervor, das bereits total verdreckt war, und wischte panisch über seine Uniform. So konnte er unmöglich vor seinen Vorgesetzten treten.
Die Tür zu seiner Linken ging auf und er fuhr zusammen. Herein trat der Sturmbannführer, lachend und vergnügt – der Gegensatz zu seinem Auftreten vor ein paar Stunden war frappierend. Ihm folgte sein Adjutant, der mit den zwei Degen und zwei Fechtanzügen, die er mühsam unter beide Arme geklemmt hatte, kaum laufen konnte.
»Schulze!«, rief Osterkorn begeistert und breitete seine Arme aus.
Als er bemerkte, dass Friedrich nicht aufhören konnte, an seiner Uniform herumzuscheuern, lachte er laut auf.
»Ja, daran muss man sich erst gewöhnen. Kommen Sie!«
Er lief schnellen Schrittes hinaus auf den Flur, der Adjutant trottete in zwei Meter Entfernung hinter ihm her.
»Aber ...«
Friedrich steckte das Taschentuch weg und folgte den beiden. Wenig später fand er sich in einer provisorischen Fechthalle wieder, die im Salon der Villa eingerichtet worden war. Der Adjutant begann umgehend damit, dem Sturmbannführer beim Ankleiden seiner Ausrüstung zu helfen.
»Sie sind doch aus Heidelberg, Schulze.«
»Äh, genau.«
»Und Sie studieren dort, habe ich gelesen.«
Friedrich nickte. Er war immer noch irritiert und wusste nicht, worauf das Treffen hinauslaufen sollte. Warum hatte der Sturmbannführer ihn denn nun zu sich bestellt?
»Dann sind Sie doch bestimmt auch in einer Burschenschaft.«
Osterkorn holte aus und warf Friedrich einen Degen zu. Friedrich räusperte sich. Er war tatsächlich der alten Familientradition folgend in einer Burschenschaft, allerdings nicht offiziell. Nachdem Hitler die Burschenschaften verboten hatte und der Verband sich dagegen gewehrt hatte, sich in eine offizielle NS-Kameradschaft einzugliedern, traf man sich inoffiziell.
»Sie brauchen keine Angst zu haben, was im Reich verboten ist, zählt hier im Osten nicht viel. Eigentlich ist hier alles erlaubt!«
Er lachte wieder. Während er sprach, kam der Adjutant zu Friedrich und zog ihm den zweiten Fechtanzug über.
»Ich bin auch Burschenschaftler in Heidelberg gewesen, bin es immer noch in der Altherrenmannschaft. Ihr Vater ist doch Wilhelm Friedrich Schulze?«
»Ja.«
»Hab sofort die Ähnlichkeit erkannt. Ihr Vater und ich waren Studienkameraden. En garde!«
Osterkorn sprang vor, den Degen voran. Friedrich hatte mit dem plötzlichen Angriff nicht gerechnet. In letzter Sekunde parierte er den Schlag. Der Sturmbannführer machte drei Schritte zurück, dann startete er seinen nächsten Angriff.
»Wissen Sie, die Arbeit, die wir hier machen, ist für keinen von uns leicht. Aber wir haben den Befehl, der Front zu folgen und für die Sicherung der besetzten Gebiete zu sorgen.«
Wieder knallten die Klingen gegeneinander.
»Dabei ist es unerlässlich, dass wir unsere Feinde in den besetzten Gebieten vernichten, noch bevor sie sich gegen uns zusammenrotten können. Die Härte, mit der wir vorgehen, hat nichts mit dem zu tun, was wir von unserem normalen Leben zu Hause gewohnt sind.«
Diesmal setzte Friedrich zum Angriff an.
»Sehr schöner Angriff«, bestätigte Osterkorn, der mit leichter Hand parierte. »Wissen Sie, wenn ich hier aufräume, dann denke ich immer daran, dass dieses Gesindel es mit unseren Familien genauso machen würden, ach, was sage ich – sie würden es zehnmal so schlimm mit unseren Frauen und Kindern treiben!«
»Ich werde in Zukunft daran denken.«
Friedrich konnte sich aus einem erneuten Angriff des Vorgesetzten befreien und fing an, ihn zurückzudrängen.
»Natürlich werden Sie das! Wenn der Transport in der Schlucht angekommen ist, werden Sie die Leitung eines der Erschießungskommandos übernehmen.«
»Was?«
Für einen Moment ließ Friedrich seine Deckung sinken.
»Touché«, sagte der Sturmbannführer und legte seinen Helm ab, trat zu Friedrich und schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
»Denken Sie daran. Es ist eine Drecksarbeit. Aber irgendjemand muss sie machen.«
Auf dem Stiefelabsatz drehte er sich um und verließ den Salon, gefolgt von seinem Adjutanten.
»Behalten Sie die Fechtausrüstung und üben Sie für unser nächstes Gefecht«, rief er noch, dann war er verschwunden.
20.
Dienstag, 29. April
Mannheim
Die Sonne scheint. Der Mannheimer Hauptfriedhof liegt friedlich da, als Eva und Kimski die Urnenhalle betreten.
»Wir kommen wieder zu spät«, murmelt Eva. »Nicht mal auf eine Beerdigung kann man mit dir
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