Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
rechte Hand entgegen.
»Eva«, sagt sie und nimmt die ihr angebotene Hand.
19.
Donnerstag, 15. Oktober 1942
Brest-Litowsk
Die Aktion dauerte nun schon den ganzen Tag an. In den Morgenstunden waren Abordnungen von Polizei, Sicherheitsdienst, Waffen-SS und den örtlichen polnischen Schutzmannschaften ausgezogen, um das Getto zu umstellen. Danach hatte man begonnen, die Bewohner auf zentralen Plätzen zusammenzutreiben und in Lastwagen verfrachtet zum Bahnhof zu bringen.
Friedrich zitterte, mehr noch als die junge Frau von vielleicht achtundzwanzig oder neunundzwanzig Jahren, die stumm vor ihm auf dem Asphalt lag. Unsicher darüber, was er tun sollte, machte er schließlich den Mund auf.
»Aufstehen!«
Sein Befehl, den er da von sich gab, strotzte nicht wirklich vor Autorität.
»Was ist hier los?«
Friedrich hatte nicht bemerkt, wie sich Sturmbannführer Osterkorn ihm von hinten genähert hatte, folglich zuckte er zusammen, als dieser ihn von der Seite anrempelte.
»Was ist hier los?«, wiederholte der Sturmbannführer.
»Die Frau ist gestolpert und nun bleibt sie einfach liegen, Sturmbannführer!«
»Ja haben Sie etwa Mitleid mit diesen Saujuden!«
»Nein, Sturmbannführer!«
»Denken Sie, wir haben den ganzen Tag Zeit, um uns um jeden Juden einzeln zu kümmern?«
»Nein, Sturmbannführer!«
»Sehen Sie mal da rüber, dort warten bestimmt noch zehntausend auf ihren Abtransport und das sind immer noch nicht alle!«
»Ich weiß, Sturmbannführer!«
»Na, dann machen Sie mal!«, dann holte der Sturmbannführer mit seinem Stiefel aus und trat der Frau gegen den Kopf.
Sie rührte sich nicht. Friedrich sah kurz zu ihr hinab, dann blickte er wieder seinen Vorgesetzten an, der ihn die ganze Zeit mit seinen Augen fixierte. Friedrich starrte zurück, unschlüssig, was der andere von ihm erwartete, obwohl er eigentlich genau wusste, was es war. Aber wie sollte er nur?
Der Blick des Sturmbannführers blieb starr auf ihn gerichtet, die Gesichtszüge waren hart und ließen jegliches Empathievermögen vermissen. Sie hellten sich erst auf, als Friedrich schließlich seine Pistole zog und auf die Frau zielte.
»Abdrücken«, sagte er immer wieder zu sich selbst. »Abdrücken«.
Doch er konnte nicht. Nach einer Minute peinlicher Stille riss ihm der Sturmbannführer die Waffe aus der Hand und feuerte. Diesmal bewegte sich die junge Frau und riss ihren Kopf zur Seite.
»Verdammt!«, rief der Sturmbannführer. »Halten Sie mal fest!«
Friedrich sah ihn unschlüssig an.
»Na los!«
Langsam beugte Friedrich sich nach unten. Er streckte die Hände aus und tastete vor sich, ohne genau hinsehen zu können. Als er mit seinen Fingern den weichen Busen der Frau ertastete, schrak er beschämt zurück. Er wollte schon den Mund aufmachen, um sich zu entschuldigen, realisierte dann aber, dass ihn seine gute Erziehung jetzt auch nicht mehr weiterbringen würde.
»Wird’s bald!«
Friedrich packte die Frau am rechten Arm, mit der anderen Hand griff er nach ihrem Kopf. Aus Angst, nun selbst in die Schusslinie zu geraten, dauerte es einen Moment, bis er die geeignete Position gefunden hatte. Schließlich fasste er sie am Hals und drückte ihr Kinn nach oben. Der Schuss kam plötzlich und noch bevor er realisiert hatte, was vor sich gegangen war, spürte er die Splitter, die in sein Gesicht spritzten. Friedrich musste die Augen schließen und sich abwenden.
Nachdem er sich aufgerichtet hatte, wendete er sich, ohne darüber nachzudenken, wie er aussah, nicht noch einmal um.
»Name und Dienstgrad?«, fragte der Sturmbannführer.
»SS-Unterscharführer Friedrich Schulze, Sturmbannführer!«
»Ach, Sie sind der Neue?«
»Jawohl, Sturmbannführer!«
»Hier.« Der Vorgesetzte reichte ihm seine Pistole. »Melden Sie sich heute Abend um acht im SS-Hauptquartier bei mir.«
Die hochrangigen SS-Offiziere waren in einer alten Villa am Stadtrand untergebracht. Nachdem man ihn in das Vorzimmer von Osterkorns Appartement geführt hatte, hatte Friedrich zum ersten Mal an diesem Abend die Gelegenheit, sich in einem Spiegel zu betrachten.
Das, was er sah, schockierte ihn. Er wusste, dass er aus seinem Gesicht alle Spuren der Exekution mit seinem Taschentuch entfernt hatte. Seine Uniform hingegen hatte er nicht weiter beachtet. Sogar auf dem schwarzen Stoff waren die Blutflecke deutlich zu sehen. Außerdem entdeckte er auf seiner rechten Schulter Knochensplitter und einen Rest Gehirnmasse an seinem Kragen. Er holte sein
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