Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
in einer Wurzel.
Noch im Flug spürt Kimski, wie ein Ruck durch seinen Körper geht und er zu Boden gedrückt wird. Ein stechender Schmerz schießt vom Knöchel über das Schienbein durch seinen Magen bis in den Kopf. Kimski schreit auf und sieht wie in Zeitlupe mit an, wie das Messer auf den Alten zudrängt. Doch Kimski ist jetzt ganz nah dran.
Mit dem rechten Arm holt er aus, greift nach dem Handgelenk der Gestalt, packt zu und reißt mit aller Kraft daran.
Es gibt einen dumpfen Aufschlag, als die Gestalt zu Boden geht. Kimski richtet seine Augen auf den Angreifer, der neben ihm im Dreck liegt, und rollt sich zur Seite. In dieser Position ist die Gestalt zu weit weg, als dass er sie packen könnte. Sie hebt ihren Kopf, als wolle sie ihm direkt in die Augen sehen, was aber nicht möglich ist, da ihr Gesicht verdeckt ist. Die Kontrahenten mustern sich einen Moment, ohne sich zu bewegen. Wieder diese Stille. Das Einzige, was Kimski hört, ist der schnelle Atem seines Gegenübers. In diesem Augenblick richtet sich die Gestalt auf, springt über den Körper des Alten, der noch immer regungslos am Boden liegt, und rennt durch die Büsche auf den Weg. Es vergehen einige wertvolle Sekunden, bis Kimski sich von der Wurzel befreit hat.
»Alles in Ordnung?«
Der Alte hält sich röchelnd die Kehle, die unversehrt geblieben ist, nicht mal ein Kratzer ist zu sehen. Kimski läuft weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. Er tritt auf den Weg und kann nichts Auffälliges entdecken. Als Nächstes kommt Eva von rechts herbeigestürmt.
»Was ist denn los?«, ruft sie.
»Hier«, schreit Kimski und zeigt auf den Alten im Gebüsch.
Sofort rennt sie zu ihm. Kimski geht humpelnd einige Meter den Pfad entlang nach links, die Gestalt ist aber immer noch verschwunden. Er trottet noch einige Minuten über den Friedhof, da er mit dem rechten Fuß nicht richtig auftreten kann. Schließlich gibt er auf.
»Mist!« Er läuft zurück zu Eva und dem Alten.
»Was war das bloß?«, fragt sie, als sie Kimski näherkommen sieht.
»Was meinst du?«
»Diese Gestalt. Von Weitem wirkte sie wie ein Phantom.«
»Klar. Von Nahem konnte ich aber erkennen, dass die Person einen Fechtanzug samt Helm und Visier trägt.«
»Einen Fechtanzug?«
»Ja, so einen alten. Nicht weiß, sondern aus dunkelbraunem Leder. Und für den Kopf eine große braune Fechtmaske.«
21.
Montag, 19. Oktober 1942
Bronnaja Gora
Nachdem der Güterzug den kleinen Bahnhof erreicht hatte, trieb man die Menschen waggonweise auf einen Platz, der mit Stacheldraht umzäunt war. Dort wurden die Juden von der SS und dem Sicherheitsdienst gezwungen, sich auszuziehen. Eine Frau, die gezögert hatte, wurde von einem der SS-Männer mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Anschließend fuhr er fort, die Ankommenden zu bewachen.
Friedrich stand auf der anderen Seite des Stacheldrahts und beobachtete, wie das Blut langsam aus dem Schädel der Frau trat und sich als dunkles Rinnsal auf die trockene Erde ergoss. Seine Männer und er waren auf Lkws angekarrt worden, sie sollten sich nur um die Massenerschießung kümmern, mehr nicht. Man hatte sie zu früh einbestellt oder der Zug war verspätet eingetroffen, was auch immer. Jedenfalls waren er und seine Leute zu früh und Friedrich musste nun das Schauspiel von vorne bis hinten mitansehen – wie die Schafe zunächst geschoren und schließlich zu ihrer Schlachtbank geführt wurden.
Als immer mehr nackte Leiber nur wenige Meter von ihm entfernt am Stacheldraht entlanggeschoben wurden, konnte er nicht länger verhindern, dass ihm übel wurde. Mit Mühe drückte er die Magensäfte, die sich in seinem Rachen und seiner Kehle sammelten, zurück.
»Unterscharführer Schulze?«, rief eine Stimme.
»Das bin ich.«
Er wandte sich nicht um, um zu sehen, wer ihn rief, er antwortete nur.
»Wir sind dann so weit, Sie können mit Ihren Männern loslegen.«
Am Lkw griff er sich seinen Ledertornister und rannte anschließend nicht zur Grube, sondern zu dem kleinen Bahnhofsgebäude, in der Hoffnung, eine Toilette zu finden. Er hatte Glück, dennoch schaffte er es nicht mehr rechtzeitig in das stinkende Kabuff und erbrach sich noch im Vorraum des Aborts neben das rostige Waschbecken. Er wollte in den Spiegel blicken und sich selbst in die Augen sehen, doch er musste erst mal mit dem Ärmel seiner Uniform ein Loch in den Dreck auf der Scheibe reiben. Was er dann sah, gefiel ihm nicht. Der Anblick, den er bot, war erbärmlich. Wie sollte er das
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