Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
28. April
Heidelberg
Eva schläft bis halb eins am Mittag. Unter der Dusche denkt sie über die Erlebnisse der vergangenen Nacht nach, obwohl sie es eigentlich nicht will. Irgendwie war es gruselig und was genau bei der Einbruchaktion herausgekommen ist, kann sie auch nicht sagen.
Warum lässt sie sich nur auf diese bescheuerten Aktionen mit Kimski ein? Würde der sich nicht nur um sich selbst und seine Fälle kümmern, sondern auch mal an sie denken, wäre sowieso alles anders gekommen. Dann würde sie nämlich in der Transsibirischen Eisenbahn sitzen und irgendwo durch die Walachei fahren. Kurz gesagt: Wenn sie es sich recht überlegt, ist sie sauer auf Kimski. Sie trocknet sich ab, wickelt sich in ein Handtuch und geht ins Wohnzimmer. Sie schaltet den Laptop ein und öffnet ihr E-Mail-Programm.
Im Posteingang findet sie zwei Werbepostings, die der Spamfilter übersehen hat, und eine Mail vom Ressortleiter des Reiseteils der Zeitung, für die sie die Kolumne über ihre Weltreise schreiben soll. Als sie ihn vor ein paar Tagen anrief, um ihm zu erklären, dass ihr erster Bericht deutlich später bei ihm eintreffen würde, war er wenig begeistert gewesen. Gestern Nachmittag hat sie ihm dann einen Artikel mit dem etwas albernen Titel Der alte Mann und der See geschickt, der als eine Art Reisebericht die Begegnung mit Albert Stumpf am Gardasee beschreibt. Dem Redakteur scheint er zu gefallen, denn er will den Text drucken. Damit dürfte das Loch in der Zeitung gestopft sein.
Eva klappt den Laptop zu und läuft in die Küche. Als sie in den Kühlschrank sieht, stellt sie fest, dass er nur wenig enthält, was genießbar ist. Also zieht sie sich an und geht einkaufen.
Nach einem kurzen Besuch im Supermarkt kauft Eva bei ihrem Lieblingsgemüsehändler noch Lauch und Blumenkohl. Voll bepackt tritt sie vor die Tür des Ladens und schaut im Vorbeigehen nach rechts zu den Auslagen und erblickt frische Champignons, die sie zuvor übersehen hat. In diesem Moment kommt ein Mann schnellen Schrittes das Trottoir entlang. Eva sieht ihn erst, als es schon zu spät ist. Durch den Zusammenstoß fällt ihr die Tüte mit dem Gemüse aus der Hand.
Der Mann kann nicht mehr rechtzeitig ausweichen und tritt mit seinem rechten Fuß mitten ins Gemüse.
»Entschuldigung!«, er bückt sich und kratzt den Kohl vom Asphalt. »Das tut mir wirklich leid.«
»Nein, das macht doch nichts. Es war mein Fehler, ich sollte besser aufpassen, wo ich hinlaufe.«
»Ja, aber der Kohl!«
Er hält zwei große Blätter links und rechts von sich, in jeder Hand eins, was ihn ein wenig belämmert aussehen lässt. Ansonsten sieht er eigentlich ziemlich fesch aus, denkt Eva. Adrett gekleidet, groß, ein kantiges, freundlich wirkendes Gesicht.
»Ich kauf Ihnen einen neuen.«
»Ach, das muss doch nicht sein«, entgegnet Eva, reißt ihm die Blätter aus der Hand und steckt sie in die Tüte mit dem restlichen Gemüse.
»Kann ich Ihnen sonst irgendetwas Gutes tun?«
»Nein, wirklich.«
»Ich könnte Sie auf einen Kaffee einladen.«
Er lächelt Eva breit an.
Irgendwie erinnert sie die Szenerie an eine Liebesschnulze: Gut aussehender, jugendlich wirkender Akademiker – ist er das überhaupt?, wobei das jedenfalls auf die meisten zutrifft, die hier in der Gegend wohnen – rempelt frustrierte Lebenskünstlerin vor einem Gemüseladen an und lädt sie auf einen Kaffee ein.
»Ich hab jetzt wirklich keine Zeit«, murmelt Eva.
Hat sie wirklich keine Zeit? Er sieht auf seine Armbanduhr.
»Sie haben ja recht. Ich muss auch gleich in die Uni.«
Also doch, er ist Akademiker! Vielleicht kann man sich mit einem wie ihm sogar über Oper unterhalten. Mit ihren letzten Freunden war das jedenfalls nicht möglich. Kimski zum Beispiel konnte man nur mit Achtzigerjahre-Actionfilmen mit Bruce Willis oder Arnold Schwarzenegger hinterm Ofen hervorlocken. Die einzige Oper, die der kennt, ist Hänsel und Gretel .
»Aber wie wäre es, wenn ich Sie morgen Abend zum Abendessen einlade?«
Sie blickt ihn einen Moment an.
»Sie können sich auch ein Restaurant aussuchen.«
Warum eigentlich nicht? Es gibt sicherlich billigere Anmachen und es ist ja auch irgendwie schmeichelhaft, von einem gut aussehenden Akademiker angeflirtet zu werden, und außerdem ist es ja nur ein Abendessen. Aber sie kennt nicht mal seinen Namen.
»Wie heißen Sie?«
»Oh, wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Lukas, nennen sie mich einfach Lukas.«
Er streckt ihr die
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