Die vergessenen Welten 02 - Die verschlungenen Pfade
und wirbelte wieder zu Drizzt herum. »Das spielt keine Rolle!« sagte er und versuchte krampfhaft, seiner Stimme einen beherrschten Klang zu geben. »Ich werde ohne Gnade gegen sie vorgehen! Und dann wird Bryn Shander in Flammen aufgehen! Aber erst bist du dran, du verräterischer Dunkelelf. Mörder deiner eigenen Art. Welche Götter sind dir denn geblieben, zu denen du beten kannst?« Er blies gegen die Kerze, und die Flamme bewegte sich in die andere Richtung.
Der Winkel der Spiegelung änderte sich, und ein Strahl fiel auf Drizzt, bohrte ein Loch durch den Knauf seines alten Krummsäbels und schnitt sich tief in die schwarze Haut seiner Hand. Drizzt verzog vor Schmerzen das Gesicht und preßte die andere Hand auf seine Wunde, nachdem er den Krummsäbel auf den Boden fallen gelassen hatte und der Strahl auf seine ursprüngliche Bahn zurückgekehrt war.
»Siehst du wohl, wie einfach das ist?« höhnte Kessell. »Dein schwacher Verstand kann sich gar nicht vorstellen, welche Kraft Crenshinibon innewohnt! Fühle dich gesegnet, daß ich dir erlaubt habe, ein Beispiel seiner Kraft zu spüren, bevor du stirbst!«
Drizzt spannte die Kiefer an, und in seinen Augen lag nicht die Andeutung eines Flehens, während er den Zauberer anstarrte. Er hatte vor langer Zeit akzeptiert, daß der Tod ihn möglicherweise bei seinen Unternehmungen ereilte, und er war entschlossen, in Würde zu sterben.
Kessell versuchte, den Schweiß aus ihm zu treiben. Der Zauberer bewegte die todbringende Kerze aufreizend hin und her, und die Lichtstrahlen folgten der Bewegung der Flamme. Als der Zauberer schließlich erkannte, daß er aus dem stolzen Dunkelelfen weder ein Wimmern noch Betteln herausholen würde, wurde er des Spiels überdrüssig. »Leb wohl, du Narr«, knurrte er und schürzte die Lippen, um gegen die Flamme zu blasen.
Da blies Regis die Kerze aus.
Einige Sekunden lang war es vollkommen still im Raum. Voll Verwunderung und Entsetzen sah der Zauberer auf den Halbling hinab, den er für seinen Sklaven gehalten hatte. Regis zuckte bloß die Achseln, als sei er genauso wie Kessell über diesen für ihn so untypischen Mut überrascht.
Instinktiv schleuderte der Zauberer den silbernen Kerzen halter in den Spiegel und lief schreiend auf den hinteren Teil des Zimmers zu, wo im Schatten eine kleine Leiter stand. Drizzt hatte erst ein paar Schritte getan, als in dem Spiegel bereits Flammen loderten. Vier bösartige, rote Augen starrten heraus, die die Aufmerksamkeit des Dunkelelfen auf sich zogen. Dann sprangen zwei Feuerhunde durch das zerbrochene Glas.
Guenhwyvar flog an seinem Herren vorbei und stürzte sich kopfüber auf einen der Feuerhunde, um ihn aufzuhalten. Die beiden Tiere wichen zurück und waren nur noch ein schwarzer und gelbbrauner Schleier aus Fängen und Klauen und warfen Regis um.
Der zweite Hund setzte seinen Feueratem gegen Drizzt ein, aber wie bei dem Tanar-Ri machte ihm das Feuer nichts aus. Jetzt war er mit seinem Angriff an der Reihe. Der feuerhassende Krummsäbel schnellte hervor und spaltete das angreifende Tier. Die Kraft der Klinge verblüffte Drizzt, aber er hatte keine Zeit, sein Opfer länger anzustarren, sondern nahm die Verfolgung auf.
Er erreichte die Leiter. Hoch oben erschien durch die offene Klapptür, die zu der obersten Ebene des Turms führte, das rhythmische Aufblitzen eines pulsierenden Lichts. Drizzt spürte, daß seine Heftigkeit mit jeder Schwingung zunahm. CryshalTiriths Herz schlug stärker, je höher die Sonne in den Himmel stieg. Drizzt war sich der Gefahr bewußt, in die er sich begab, aber ihm blieb keine Zeit, innezuhalten und über seine Chancen nachzudenken.
Und dann stand er wieder Kessell gegenüber, diesmal in dem kleinsten Raum des Turms. Zwischen ihnen hing der beängstigende pulsierende Kristall – das Herz von Cryshal-Tirith. Es war viereckig und doch wie ein Eiszapfen geformt. Drizzt erkannte in ihm das verkleinerte Ebenbild des Turms wieder, auch wenn er nicht einmal einen Fuß maß.
Und er war das genaue Ebenbild von Crenshinibon.
Der Kristall strahlte eine Lichtmauer ab und teilte das Zimmer in zwei Hälften, in denen sich der Dunkelelf auf der einen und der Zauberer auf der anderen gegenüberstanden. Drizzt entnahm dem Kichern des Zauberers, daß diese Schranke so hart war wie Stein. Anders als in dem unteren Raum, der mit Wahrsagespiegeln vollgestopft war, enthielt dieser nur einen einzi gen Spiegel auf der Seite des Zauberers, und der sah eher wie ein Fenster in
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