Die vergessenen Welten 09 - Brüder des Dunkels
anerkennend. »Ich werde die Siegerin sein«, versicherte sie ihm. »Es wird schnell vorüber sein, noch an diesem Tag, und nur wenige Drow werden sterben.«
Das bezweifelte Jarlaxle. Das Haus Oblodra hatte dem Leben nie sonderlichen Wert zugemessen, weder dem eines Drow noch eines anderen Wesens. Die Zahl der Drow im dritten Haus war hauptsächlich deshalb so gering, weil sich die wilden Sippenmitglieder ebenso häufig umbrachten, wie sie sich fortpflanzten. Sie waren bekannt dafür, häufig ein Spiel namens Khaless zu spielen – ironischerweise war dies das Drowwort für Vertrauen. Eine Kugel der Dunkelheit und magischen Stille wurde dafür in der Luft über dem tiefsten Punkt des Klauenspalts plaziert. Dann schwebten die konkurrierenden Dunkelelfen dort hinein, und es kam, ohne daß Außenstehende etwas hören oder sehen konnten, zu einem Wettstreit reinen Mutes.
Der erste, der aus der Kugel wieder auftauchte und auf den festen Boden zurückkehrte, war der Verlierer, also bestand die Herausforderung darin, bis zur allerletzten Sekunde, die der Levitationszauber anhielt, in der Kugel zu verbleiben.
Nur allzu häufig kam es vor, daß beide Wettkämpfer zu lange warteten und ins Verderben stürzten.
Und jetzt versuchte die gnadenlose und absolut bösartige K'yorl, Jarlaxle zu versichern, daß die Verluste an Drowleben auf ein Minimum beschränkt werden würden. Nach wessen Maßstab? fragte sich der Söldner, und wenn die Antwort lauten sollte, nach dem von K'yorl, dann mochte am Ende dieses Tages durchaus die halbe Stadt tot sein.
Jarlaxle war klar, daß er wenig daran ändern konnte. Er und Bregan D'aerthe waren ebenso auf die Magie angewiesen wie jeder Dunkelelf, und ohne sie konnte er nicht einmal K'yorl aus seinen Privatgemächern fernhalten – nicht einmal aus seinen privatesten Gedanken!
»Dies ist der Tag«, sagte K'yorl grimmig noch einmal. »Und wenn es vollbracht ist, werde ich Euch rufen, und Ihr werdet kommen.«
Jarlaxle nickte nicht, er gab überhaupt keine Antwort. Das war auch nicht nötig. Er spürte erneut die geistige Sondierung und wußte, daß K'yorl ihn verstanden hatte. Er haßte sie, und er haßte, was sie zu tun vorhatte, aber Jarlaxle war pragmatisch, und wenn die Dinge sich so entwickelten, wie K'yorl es vorhersagte, dann würde er in der Tat ihrem Ruf Folge leisten.
Sie lächelte erneut und verblaßte. Dann schritt sie wie ein Geist durch die Steinwand davon.
Jarlaxle lehnte sich in seinem Sessel zurück und begann, nervös die Fingerspitzen gegeneinanderzutippen. Er hatte sich noch nie so verwundbar gefühlt oder so sehr im Netz einer unkontrollierbaren Situation gefangen. Er konnte natürlich Oberin Baenre eine Nachricht zukommen lassen, aber was würde das nützen? Selbst das Haus Baenre, so groß und stolz es war, konnte nicht gegen K'yorl bestehen, wenn ihre Magie funktionierte, wo die von Baenre versagte. Wahrscheinlich würde Oberin Baenre schon bald tot sein und ihre ganze Familie mit ihr, und wo sollte sich Jarlaxle dann verbergen?
Er würde sich natürlich nicht verbergen. Er würde K'yorls Ruf Folge leisten.
Jarlaxle verstand, warum ihm K'yorl diesen Besuch abgestattet hatte und warum es für sie, die doch offenbar alle Trümpfe in der Hand hatte, so wichtig war, ihn auf ihre Seite zu ziehen. Er und seine Gruppe waren die einzigen Drow in Menzoberranzan, die wirkliche Verbindungen außerhalb der Stadt besaßen, und das war ein entscheidender Faktor für jeden, der nach der Position der ersten Oberin Mutter strebte – nicht, daß dies in fast tausend Jahren einer anderen als Oberin Baenre gelungen wäre.
Jarlaxles Finger tippten noch immer nervös gegeneinander. Vielleicht war es an der Zeit für einen Wechsel, überlegte er. Er verwarf den hoffnungsvollen Gedanken jedoch wieder, denn selbst wenn es stimmen sollte, versprach dieser Wechsel nicht, daß es danach besser werden würde. Allerdings schien es, daß K'yorl das Versagen der normalen Magie nur für eine kurzfristige Sache hielt, sonst wäre sie sicher nicht so sehr daran interessiert gewesen, Bregan D'aerthe anzuwerben.
Jarlaxle mußte daran glauben, mußte hoffen, daß sie damit recht hatte, insbesondere, falls ihr Putsch gelingen sollte (und der Söldner hatte keine Veranlassung, das zu bezweifeln). Ihm war klar, daß er nicht lange überleben würde, wenn die Erste Oberin Mutter K'yorl, eine Drow, die er mehr haßte als jede andere, nach Belieben in seine innersten Gedanken einzudringen vermochte.
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