Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
jedoch nicht auf, sondern stieß ihn wieder in die andere Richtung, so dass der Junge mit dem Gesicht in den Dreck fiel. Der Zwerg stellte sich auf Jakas Rücken und drückte mit seinen schweren Stiefeln zu. »Pass nächstes Mal auf, wo du Steine hinwirfst«, sagte er und stampfte plötzlich auf, so dass Jaka einen Augenblick lang die Luft aus den Lungen getrieben wurde.
»Der Junge spinnt«, wiederholte der andere Bauer, als sie davongingen. Jaka lag auf dem Boden und weinte.
»All das gute Essen auf der Burg«, sagte Meisterin Prinkle, eine alte graue Frau mit einem freundlichen Gesicht. Die Haut der Frau hing in Falten herab. Sie griff nach Meraldas Hüfte und kniff sie leicht. »Wie soll mein Kleid dir denn jemals passen, wenn sich jede Woche deine Größe ändert? Wirklich, Mädchen, du hast drei Finger mehr Umfang.«
Meralda errötete und schaute weg, da sie Priscilla nicht ins Gesicht sehen wollte, die an der Seite stand und das Geschehen aufmerksam verfolgte.
»Ich bin in letzter Zeit in der Tat immer sehr hungrig«, erwiderte Meralda. »Ich habe alles gegessen, was ich vor den Mund bekam. Ich bin ein wenig nervös.« Sie schaute fragend zu Priscilla, die hart mit ihr geübt hatte, ihre bäuerliche Ausdrucksweise abzulegen.
Priscilla nickte, schien aber nicht sonderlich überzeugt.
»Nun, du solltest besser einen anderen Weg finden, dich zu beruhigen«, erwiderte Meisterin Prinkle, »sonst platzt dir noch das Kleid, während du bei der Zeremonie an Lord Feringals Seite trittst.« Darüber musste sie lauthals lachen. Meralda und Priscilla lachten ebenfalls höflich, doch keine von beiden schien es im Mindesten amüsant zu finden. »Kannst du es passend machen?«, fragte Priscilla.
»Oh, keine Angst«, erwiderte Meisterin Prinkle. »Ich werde das Mädchen für ihren großen Tag gewiss schön machen.« Sie begann ihr Garn und ihre Nähwerkzeuge zusammenzusuchen. Priscilla half ihr dabei, während Meralda rasch das Kleid abstreifte, ihre eigenen Sachen anzog und aus dem Raum eilte.
Als sie von den beiden anderen fort war, legte die Frau die Hand auf ihren unbestreitbar dickeren Bauch. Es waren zweieinhalb Monate seit ihrem Treffen mit Jaka in dem sternenbeschienenen Feld vergangen. Sie bezweifelte zwar, dass das Baby schon groß genug war, um ihren Bauch so weit vorzuwölben, aber sie aß in der letzten Zeit wirklich außerordentlich viel. Vielleicht waren es die Nerven, vielleicht lag es auch daran, dass sie jetzt Nahrung für zwei brauchte, aber was auch immer der Grund war, sie würde den Rest der Woche vorsichtig sein müssen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Sie wird uns das Kleid morgen früh zurückbringen«, sagte Priscilla hinter ihr, und die junge Frau sprang vor Schreck fast in die Luft. »Ist irgendetwas, Meralda?«, fragte die Frau, trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Hättest du keine Angst, wenn du einen Lord heiraten würdest?«
Priscilla zog eine säuberlich gezupfte Augenbraue hoch. »Ich hätte keine Angst, weil ich nicht in eine solche Situation kommen würde«, erwiderte sie.
»Aber was, wenn du es wärst?«, drängte Meralda. »Wenn du als Bauernmädchen geboren worden wärst, und der Lord …«
»Absurd«, unterbrach die Frau sie. »Wenn ich als Bauernmädchen geboren worden wäre, wäre ich nicht, wer ich bin, und deshalb ergibt deine Frage überhaupt keinen Sinn.« Meralda starrte sie offensichtlich völlig verwirrt an.
»Ich bin keine Bäuerin, weil ich nicht die Seele oder das Blut einer Bäuerin habe«, erklärte Priscilla. »Ihr Leute haltet es für einen Zufall, dass ihr in eure Familien und wir Adligen in die unseren hineingeboren wurden, aber das stimmt nicht, meine Liebe. Stellung kommt von innen, nicht von außen.«
»Das heißt also, ihr seid besser?«, fragte Meralda geradeheraus.
Priscilla lächelte. »Nicht besser, Liebste«, antwortete sie gönnerhaft. »Anders. Wir alle haben unseren Platz.«
»Und der meine ist nicht bei deinem Bruder«, vermutete die jüngere Frau.
»Ich halte nichts davon, Blut zu vermischen«, stellte Priscilla fest, und die beiden starrten sich einen langen, unangenehmen Augenblick an.
Dann solltest du ihn selbst heiraten, dachte Meralda, hielt ihre Zunge jedoch im Zaum.
»Ich werde jedoch die Wahl meines Bruders akzeptieren«, fuhr Priscilla in dem gleichen, herablassenden Tonfall fort. »Es ist sein Leben, und er kann es ruinieren, wie er will. Ich werde tun, was ich kann, um dich so
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