Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
beharrte er, und sein steinerner Gesichtsausdruck ließ keinen Widerspruch zu. Er ließ diesen Blick eine Zeit lang auf Morik verweilen, dann wandte er sich wieder dem Tal zu, und die Wehmut trat erneut in seine hellblauen Augen.
»Was für ein Leben hast du dort zurückgelassen?«, fragte Morik.
Wulfgar drehte sich überrascht wieder zu ihm um. Er und Morik sprachen nicht oft über ihre jeweiligen Vergangenheiten, zumindest nicht, wenn sie nicht tranken.
»Wirst du es mir erzählen?«, bedrängte ihn Morik. »Ich erkenne so viel in deinem Gesicht. Schmerz, Bedauern – und was noch?«
Diese Feststellung entlockte Wulfgar ein leises Lachen. »Was ich zurückgelassen habe?«, wiederholte er. Nach einer kurzen Pause antwortete er: »Alles.« »Das klingt töricht.«
»Ich könnte ein König sein«, fuhr Wulfgar fort und starrte wieder auf das Tal, als würde er mit sich selbst reden. Vielleicht tat er das auch. »Häuptling der vereinten Stämme des Eiswindtals, mit einer gewichtigen Stimme im Rat von Zehn-Städte. Mein Vater …« Er blickte zu Morik und lachte. »Du würdest meinen Vater nicht mögen, Morik. Oder zumindest würde er dich nicht mögen.« »Ein stolzer Barbar?«
»Ein griesgrämiger Zwerg«, antwortete Wulfgar. »Er ist mein Adoptivvater«, erklärte er, als Morik verblüfft dreinschaute. »Der achte König von Mithril-Halle und Anführer eines Zwergenclans, der im Tal vor Kelvins Steinhügel Bergbau betreibt.«
»Dein Vater ist ein Zwergenkönig?« Wulfgar nickte. »Und du bist mit mir hier draußen in der Wildnis und schläfst auf dem Boden?« Ein weiteres Nicken. »Du bist wirklich ein größerer Narr, als ich angenommen habe.«
Wulfgar starrte auf die Tundra hinaus und hörte dem traurigen Lied des Windes zu. Er konnte Moriks Urteil nicht widersprechen, aber er hatte auch nicht die Kraft, die Dinge zu ändern. Er hörte, wie Morik nach seinem Rucksack griff, und dann erklang das vertraute Klirren von Flaschen.
TEIL 4
Geburt
Wir glauben, wir würden jene um uns herum verstehen. Die Leute, die wir kennen gelernt haben, handeln nach einem gewissen Verhaltensschema, und je öfter unsere Erwartung dieses Schemas von ihnen erfüllt wird, desto mehr beginnen wir zu glauben, dass wir das Herz und die Seele dieser Personen kennen.
Ich halte das für eine arrogante Annahme, denn man kann das Herz und die Seele eines anderen nicht wirklich verstehen; man kann nicht wirklich nachvollziehen, wie ein anderer auf die gleichen oder ähnliche Wahrnehmungen reagiert. Wir alle suchen nach der Wahrheit, vor allem im Bereich unserer eigenen Existenz. Aber ich fürchte, dass Wahrheit nicht immer vorhanden ist, wenn es um Individuen geht, die so komplex und veränderlich sind.
Immer wenn ich glaube, dass die Fundamente meiner Welt in Stein gemeißelt sind, genügt ein Gedanke an Jarlaxle, um mich wieder von meinem hohen Ross zu holen. Ich habe schon immer gesehen, dass mehr hinter dem Söldner steckt als die reine Suche nach persönlicher Bereicherung – schließlich ließ er mich und Catti-brie aus Menzoberranzan fliehen, obwohl er zu jener Zeit ein gutes Kopfgeld für uns bekommen hätte. Als Catti-brie seine Gefangene war und sich vollständig in seiner Gewalt befand, hat er seine Macht nicht ausgenutzt, obwohl er durch sein Benehmen, wenn auch nicht durch Worte, zu erkennen gab, dass er sie für sehr attraktiv hielt. Ich habe also immer eine gewisse Stufe von Charakter unter den alten Söldnerkleidern verborgen gesehen, und dennoch hat mir meine letzte Begegnung mit Jarlaxle gezeigt, dass er viel komplexer und gewiss deutlich mitfühlender ist, als ich je angenommen hätte. Zudem nannte er sich einen Freund von Zaknafein, und obwohl mich diese Vorstellung zunächst abgestoßen hat, halte ich es mittlerweile nicht nur für glaubhaft, sondern sogar für wahrscheinlich.
Kenne ich jetzt die Wahrheit über Jarlaxle? Und ist es die gleiche Wahrheit, die jene in seiner Nähe, die Mitglieder von Bregan D'aerthe, wahrnehmen? Gewiss nicht, und obwohl ich meine gegenwärtige Einschätzung für richtig halte, werde ich nicht so arrogant sein, sie zur Gewissheit zu erklären. Und ich glaube auch nicht, dass ich mehr über ihn weiß, als meine oberflächlichen Gedanken es erlauben.
Was ist dann also mit Wulfgar? Welcher Wulfgar ist der echte? Ist es der stolze, ehrliche Mann, den Bruenor aufgezogen hat, der Mann, der an meiner Seite gegen Biggrin und in so vielen späteren Kämpfen gefochten hat? Der Mann, der die
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