Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
Morgenluft und ließ einen Schwarm Möwen in den Klippen östlich der Burg aufflattern. Alle Augen richteten sich auf die Klippe, von der die Stimme erklungen war. Dort stand hoch oben eine einsame Gestalt mit hängenden Schultern, die unverkennbare Silhouette von Jaka Sculi.
»Meralda!«, rief der törichte junge Mann erneut, als würde der Name aus seinem Herzen herausgerissen.
Meralda blickte zu ihren Eltern, zu ihrem besorgten Vater und dann zu dem Gesicht ihres zukünftigen Ehemanns.
»Wer ist das?«, fragte Lord Feringal mit offenkundiger Unruhe.
Meralda stotterte und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht war zu ehrlicher Abscheu verzogen. »Ein Narr«, brachte sie schließlich heraus.
»Du kannst Lord Feringal nicht heiraten! Lauf mit mir davon, Meralda, ich flehe dich an!« Jaka trat einen Schritt vor und kam gefährlich nahe an den Rand der Klippe.
Lord Feringal und alle anderen, wie es schien, starrten Meralda an.
»Eine Kinderfreundschaft«, erklärte sie hastig. »Ein Narr, wie ich gesagt habe, ein kleiner Junge, der ohne Bedeutung ist.« Als sie sah, dass ihre Worte kaum einen Eindruck auf Feringal machten, legte sie die Hand auf seinen Unterarm und trat dicht neben ihn. »Ich bin hier, um dich zu heiraten, weil wir eine Liebe gefunden haben, die ich mir nie erträumt hätte«, sagte sie und versuchte verzweifelt, ihn zu überzeugen. »Meralda!«, heulte Jaka.
Feringal schaute mit gerunzelter Stirn zu der Klippe empor. »Jemand soll diesen Narren zum Schweigen bringen«, befahl er. Er schaute zu dem Hohen Observator Risten. »Senk eine Kugel der Stille um seinen törichten Kopf.«
»Zu weit entfernt«, erwiderte Risten kopfschüttelnd, obwohl er in Wahrheit einen solchen Zauber nicht einmal parat hatte.
Am anderen Ende stand Verwalter Temigast und hatte Angst davor, was diese Unterbrechung bewirken könnte; daher schickte er rasch Wachen aus, um den jungen Schreihals zum Schweigen zu bringen. Genau wie Temigast hatte auch Meralda echte Angst und fragte sich, als wie dumm sich Jaka erweisen würde. Würde der Idiot etwas sagen, das Meralda ihre Hochzeit kosten konnte, das sie beide ihren Ruf und vielleicht sogar ihr Leben kosten konnte?
»Lauf mit mir davon, Meralda«, schrie Jaka. »Ich bin deine wahre Liebe!«
»Wer ist dieser Bastard?«, verlangte Feringal erneut wütend zu wissen.
»Ein Feldarbeiter, der glaubt, er würde mich lieben«, flüsterte sie, während die Menge das Paar anstarrte. Meralda sah die Gefahr, die in Feringals Augen zu lodern begann. Sie schaute ihn direkt an und verkündete tonlos und mit einer Stimme, die keinen Raum für Diskussionen ließ: »Wenn du und ich nicht heiraten würden, wenn wir nicht unsere Liebe zueinander gefunden hätten, würde ich dennoch nichts mit diesem Idioten zu tun haben wollen.«
Lord Feringal starrte sie eine Zeit lang an, aber er konnte nicht wütend bleiben, nachdem er Meraldas ehrliche Aussage gehört hatte. »Soll ich fortfahren, mein Lord?«, fragte der Hohe Observator Risten.
Lord Feringal hob die Hand. »Erst, wenn dieser Narr fortgeschafft wurde«, erwiderte er.
»Meralda! Wenn du nicht zu mir kommst, werde ich mich in den Abgrund stürzen!«, brüllte Jaka plötzlich und trat dicht an den Rand der Klippe.
Mehrere der Anwesenden keuchten auf, doch nicht Meralda. Sie schaute kalt zu Jaka hinüber und war so wütend, dass es sie kaum kümmerte, ob der Narr seine Drohung wahrmachen würde – sie war sicher, dass er es nicht tun würde. Er hatte nicht den Mut, sich selbst zu töten. Er wollte sie nur öffentlich quälen und demütigen, um Lord Feringal zu beleidigen. Dies war kleingeistige Rache, nicht Liebe. »Halt!«, rief ein Wachmann, der auf Jaka zurannte.
Der junge Mann fuhr bei dem Ruf herum, rutschte dabei jedoch aus und fiel auf den Bauch. Er suchte hektisch mit den Armen nach einem Halt, rutschte aber immer weiter herunter, bis er von der Brust abwärts in der Luft hing und über dem hundert Meter tiefen Abgrund baumelte. Die Wache hechtete auf ihn zu, doch es war zu spät.
»Meralda!«, erklang Jakas letzter Schrei, ein verzweifeltes, jammerndes Heulen, als er in die Tiefe stürzte.
Meralda war benommen von der dramatischen Wendung der Ereignisse – und sie war erfüllt von ungläubiger Trauer um Jaka und gleichzeitig von dem Bewusstsein, dass Feringal sie genau musterte und jede ihrer Reaktionen registrierte und abschätzte. Sie begriff sofort, dass jeder Fehler, den sie jetzt machte, gegen sie verwendet werden würde,
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