Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
lächelnd schaute die junge Frau aus dem Fenster der Kutsche, an dem die sich windende Straße vorbeizog. Sie sah ihn, und plötzlich verschwand ihr Lächeln. Jaka Sculi stand auf einer felsigen Anhöhe, eine einsame Gestalt, die auf die Stelle hinunterstarrte, an der der Kutscher Meralda gewöhnlich aussteigen ließ.
Meralda lehnte sich aus dem von Jaka abgewandten Fenster, um von ihm nicht gesehen zu werden. »Guter Kutscher, bring mich heute Nacht bitte ganz bis zu meiner Haustür.«
»Oh, ich habe gehofft, dass du mich das gerade heute bitten würdest«, erwiderte Liam Holztor. »Es scheint, dass eines meiner Pferde ein Problem mit einem Hufeisen hat. Ob dein Vater mir wohl ein festes Brett und einen Hammer leihen kann?«
»Natürlich wird er das tun«, antwortete Meralda. »Bring mich heim, und ich bin sicher, dass mein Vater dir gerne helfen wird, das Hufeisen wieder in Ordnung zu bringen.«
»Dann also los!«, erwiderte der Kutscher. Er gab den Zügeln einen kleinen Ruck, der die Pferde schneller traben ließ.
Meralda ließ sich wieder auf ihren Sitz zurückfallen und starrte aus dem Fenster zu der Silhouette eines schlanken Mannes, dessen niedergeschlagene Haltung ihr verriet, dass es Jaka war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie genau seinen Gesichtsausdruck. Sie überlegte es sich beinahe anders und wollte den Kutscher bitten, sie aussteigen zu lassen. Vielleicht sollte sie erneut zu Jaka gehen und ihn noch einmal unter den Sternen lieben, noch eine weitere Nacht frei sein. Vielleicht sollte sie mit ihm davonlaufen und ihr Leben für sich leben und für niemanden sonst.
Nein, das konnte sie ihrer Mutter, ihrem Vater und auch Tori nicht antun. Meralda war eine Tochter, deren Eltern sich darauf verlassen konnten, dass sie das Richtige tat. Und das Richtige, das wusste Meralda, war, ihre Zuneigung zu Jaka Sculi zu verdrängen.
Die Kutsche hielt vor dem Haus der Ganderlays. Liam Holztor, ein flinker Geselle, sprang vom Bock und öffnete Meraldas Tür, bevor sie nach dem Verschluss greifen konnte.
»Das brauchst du nicht zu tun«, erklärte die junge Frau, als ihr der Gnom aus der Kutsche half.
»Aber du wirst die Herrin von Burg Auck werden«, erwiderte der gutmütige alte Kerl lächelnd und mit einem Augenzwinkern. »Wir können doch nicht zulassen, dass du wie ein Bauernmädchen behandelt wirst, nicht wahr?«
»Es ist nicht so schlimm«, sagte Meralda und fügte hinzu: »Ein Bauernmädchen zu sein, meine ich.« Liam lachte herzhaft. »So kommst du nachts wenigstens mal aus der Burg.«
»Und du kommst wieder hinein, wann immer du willst«, erwiderte Liam. »Verwalter Temigast sagt, dass ich dir zur Verfügung stehe, Fräulein Meralda. Ich soll dich, und auch deine Familie, wenn du es wünschst, überall hinbringen, wohin du willst.«
Meralda lächelte und dankte ihm nickend. Sie bemerkte dass ihr grimmig dreinblickender Vater die Tür geöffnet hatte und in der Öffnung stand.
»Papa!«, rief Meralda. »Könntest du meinem Freund …« Die Frau brach ab und schaute sich zu dem Kutscher um. »Ich weiß ja nicht einmal deinen richtigen Namen«, sagte sie.
»Die meisten edlen Damen machen sich nicht die Mühe, danach zu fragen«, erwiderte er, und wieder lachten er und Meralda gemeinsam. »Außerdem sehen wir für euch große Leute alle gleich aus.« Er zwinkerte verschmitzt und machte dann eine tiefe Verbeugung. »Liam Holztor, zu deinen Diensten.«
Dohni Ganderlay kam herbei. »Das war heute ein kurzer Besuch auf der Burg«, stellte er mißtrauisch fest.
»Lord Feringal hatte Geschäfte mit einem Händler«, erwiderte Meralda. »Ich soll morgen wiederkommen. Liam hier hat ein kleines Problem mit einem Hufeisen. Könntest du ihm dabei helfen?« Dohni schaute an dem Kutscher vorbei zu den Pferden und nickte. »Natürlich«, antwortete er. »Geh ins Haus, Mädchen«, wies er Meralda an. »Deiner Mutter geht es wieder schlechter.«
Meralda stürmte ins Haus. Sie fand ihre Mutter im Bett vor, fiebrig und mit tief eingesunkenen Augen. Tori kniete neben dem Bett und hatte in der einen Hand einen Krug Wasser und in der anderen ein feuchtes Tuch.
»Das Schwitzen hat angefangen, als du gerade fort warst«, erklärte Tori. Biaste wurde von diesen bösartigen Anfällen seit mehreren Monaten immer wieder heimgesucht.
Meralda wollte am liebsten zu Boden sinken und weinen, als sie ihre Mutter anschaute.
Wie zerbrechlich die Frau wirkte – es war, als würde Biaste Ganderlay Tag für Tag am Grab
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