Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
entlangwandeln. Meralda wusste, dass nur ihr Hochgefühl die Frau die letzten Tage aufrecht gehalten hatte, seit Lord Feringal ihre Tochter eingeladen hatte. Das Mädchen klammerte sich verzweifelt an die einzige Arznei, über die sie verfügte.
»Oh, Mama«, sagte sie mit gespieltem Ärger. »Du hast dir ja eine schöne Zeit ausgesucht, um wieder krank zu werden!«
»Meralda«, hauchte Biaste Ganderlay, und selbst dies schien ihr Mühe zu bereiten.
»Wir müssen dich wohl oder übel wieder auf die Beine bringen, und zwar rasch«, sagte Meralda in strengem Ton. »Meralda«, beschwerte sich Tori.
»Ich habe dir doch von dem Garten von Herrin Priscilla erzählt«, fuhr Meralda fort und ignorierte den Protest ihrer Schwester. »Werde wieder gesund, und zwar schnell, denn morgen sollst du mich zur Burg begleiten. Wir werden zusammen durch den Garten spazieren.« »Und ich?«, bettelte Tori.
Meralda drehte sich zu ihr um und stellte fest, dass noch jemand zuhörte. Dohni Ganderlay lehnte am Türrahmen, und ein überraschter Ausdruck lag auf seinem starken, aber erschöpft wirkenden Gesicht.
»Ja, Tori, du kannst mitkommen«, sage Meralda und versuchte, ihren Vater zu ignorieren, so gut es ging, »aber du musst versprechen, dass du dich benehmen wirst.«
»Oh, Mama, bitte werde schnell gesund!«, flehte Tori ihre Mutter an und umklammerte dabei die Hand der Frau. Es hatte den Anschein, dass Biaste schon jetzt ein wenig mehr Leben zeigte. »Geh, Tori«, wies Meralda ihre Schwester an. »Lauf zu dem Kutscher – er heißt Liam – und sag ihm, dass wir drei morgen Mittag eine Fahrgelegenheit zur Burg brauchen. Wir können Mutter nicht den langen Weg zu Fuß gehen lassen.«
Tori rannte davon, und Meralda beugte sich über ihre Mutter. »Werde gesund«, flüsterte sie und küsste die Frau auf die Stirn. Biaste lächelte und nickte, um zu verstehen zu geben, dass sie sich bemühen würde.
Meralda verließ unter dem prüfenden Blick ihres Vaters den Raum. Sie hörte, wie der Mann den Vorhang schloss, der den Raum ihrer Eltern abgrenzte, und ihr dann in den Wohnraum folgte.
»Wird er gestatten, dass du die beiden mitbringst?«, fragte Dohni leise, so dass Biaste ihn nicht hören konnte.
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich soll seine Frau werden, und das ist seine Idee. Er wäre ein Narr, wenn er mir nicht einmal diesen einen Wunsch gewähren würde.«
Dohni Ganderlays Züge zerflossen zu einem dankbaren Lächeln, als er seine Tochter fest an sich drückte. Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste Meralda, dass er weinte.
Sie erwiderte die Umarmung so fest sie konnte und vergrub ihr Gesicht an seiner starken Brust. Es war eine nicht sehr dezente Erinnerung daran, dass sie zwar ein tapferer kleiner Soldat zum Wohle ihrer Familie war, zugleich aber auf vielerlei Weise nichts als ein verängstigtes kleines Mädchen.
Wie warm sich das anfühlte; es war eine Versicherung, dass sie das Richtige tat, als ihr Vater sie auf den Scheitel küsste.
Von oben auf dem Hügel, eine kurze Strecke entfernt, beobachtete Jaka Sculi, wie Dohni Ganderlay dem Kutscher half, das Hufeisen wieder zu befestigen. Die beiden Männer unterhielten sich und lachten dabei wie alte Freunde. Zusammen damit, wie der Bauer ihn zuvor behandelt hatte, war der Anblick für den armen, eifersüchtigen Jaka völlig niederschmetternd. Verstand Dohni nicht, dass Lord Feringal das Gleiche wollte, für dass Meraldas Vater ihn verprügelt hatte? Konnte der Mann nicht erkennen, dass Jakas Absichten besser waren als die des Lords, dass er dichter an Meraldas Klasse und Herkunft war und daher die bessere Wahl für sie?
Jetzt ging Dohni wieder ins Haus zurück, und Meraldas Schwester kam kurz danach heraus und hüpfte förmlich vor Freude, als sie zum Kutscher hinüberlief, um mit ihm zu sprechen.
»Habe ich denn gar keine Verbündeten?«, fragte Jaka leise und kaute missmutig auf der Unterlippe. »Sind alle gegen mich, geblendet von dem unverdienten Reichtum und Prestige des Feringal Auck? Sei verdammt, Meralda! Wie konntest du mich so verraten?«, rief er, ohne sich darum zu kümmern, ob seine Klage bis zu Tori und dem Kutscher zu hören war.
Er konnte ihnen nicht mehr zuschauen. Jaka ballte die Fäuste und schlug sie sich heftig gegen die Augen, während er sich nach hinten auf den harten Boden fallen ließ. »Was für eine Gerechtigkeit liegt in diesem Leben?«, rief er. »Oh, verflucht das Los, als Bettler geboren zu sein, wo der Mantel eines Königs
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