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Die Vergessenen

Die Vergessenen

Titel: Die Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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verhindern, dass ich gehe und mich umbringen lasse?«, fragte Jem.
    Grant senkte die Waffe ein Stück weit und zielte jetzt auf eines der Beine Jems.
    War Sanders von Bedeutung? In den enormen Zeitläufen, die Jem erlebt hatte, sei es auch aus zweiter Hand, bedeutete sie nichts, war sie ein flüchtiger Augenblick, schnell vorüber, aber andererseits schien in denselben gewaltigen Dimensionen sein eigenes Leben als Mensch so gering. Sollte er der Sache einfach ihren Lauf gönnen, sich ganz auf die Veränderungen einlassen, die das andere Selbst in ihm bewirkt hatte? Nein, denn selbst angesichts der vom Weber gewährten Perspektive wusste er, dass er nicht der Weber war, niemals der Weber sein konnte. Sein schmaler Menschenschädel bot nicht genug Platz für alles, was dieses Wesen darstellte – stets musste etwas geopfert werden. Jem war ein Mensch und musste in einer Welt von Menschen mit den Bezugsgrößen von Menschen leben, den Gefühlen von Menschen, zur Gänze als Jem, wenn auch eine stark veränderte Version dieses Menschen.
    »Es ging dabei um sorgfältige Planung unter Zuhilfenahme einiger zweifellos schon lange bekannter und wohlerprobter Methoden«, sagte er.
    »Was?«, fragte Grant und zeigte Ansätze von Besorgnis.
    »Zunächst musste mir die verrückte Leugnung der aktuellen Realität ausgetrieben werden, ein Wahnsinn, der meinen Verstand ausschaltete und nebenbei auch das, was der Techniker dort untergebracht hatte.« Grant schien in Jems Wahrnehmung zu schrumpfen, wie beim Blick durch eine Linse in einem dunklen Tunnel. Jem fuhr fort: »Dies wurde durch eine Reihe schmerzlicher Konfrontationen mit der Realität erreicht und durch Manipulation meiner eingeprägten Neigung zu Schuldgefühlen. Und als letzten Schritt hatten Amistad und Penny Royal hier für mich eine Begegnung mit Jerval Sanders geplant, um so den Vorgang abzuschließen.«
    Jem erinnerte sich gar nicht daran, dass er Grant näher getreten war. Er wusste lediglich, dass er gerade noch einen Schritt von diesem entfernt stand, dicht genug, um den Schweiß zu erkennen, der im Gesicht des Mannes perlte.
    »Es sind sehr leistungsstarke Intelligenzen, und sie haben es auf Grundlage der ihnen vorliegenden Informationen weitgehend richtig hinbekommen. Sie überlegten sich, dass die starke Medizin des Schuldgefühls inzwischen hinderlich geworden war und durch Beseitigung dieses Gefühls mehr vom Weber in meinem Verstand zutage treten könnte. In ihrer Arroganz kalkulierten sie jedoch nicht das ein, was der Weber selbst möchte, und nicht die Veränderungen in mir sowie das, was ich, Jeremiah Tombs, jetzt möchte.«
    Er spürte es jetzt, spürte, wie es sich in seinem Verstand straffte, seinen Halt lockerte, ein deutlich erkennbares enormes Bewusstsein, ein Potenzial wie von einem heraufziehenden Gewitter, bereit, sich explosiv zu manifestieren, aber nicht in Jems Innerem, niemals in seinem Inneren. Diese Trennung, die weder Penny Royal noch Amistad hätten vorhersehen können, ermöglichte Jem ein Maß an Entscheidungsgewalt über das eigene Schicksal. Der Weber wandte sich jetzt nach innen, während er sich auf das nächste Stadium seiner Existenz vorbereitete; dabei wusste er, dass Jems Handlungen dieses nächste Stadium vielleicht gefährdeten, aber zugleich hatte er Vertrauen in dieses Gefäß, das ihn mitführte.
    Jem griff sich Grants Scheibenpistole und nahm sie ihm einfach aus der Hand. Er nahm sie kurz in Augenschein und stellte fest, dass sie noch immer gesichert war. Grant musste zwar Protest zeigen, aber im Herzen war ihm Sanders wichtiger als Jem.
    »Ich möchte«, sagte Jem, »Sanders befreien.«
    »Ich bringe dich hinaus«, sagte Grant.
    »Ja, ich weiß«, sagte Jem.
    Die geostationäre Kanone war von grundlegend schlichter Konstruktionsweise: ein donut-förmiger Tokamak, der zweihundert Meter überspannte und einen über ihm montierten Protonenbeschleuniger mit Energie versorgte. Im Loch des Donuts wurde der Strahl durch das Magnetfeld gebündelt und beschleunigt – wobei das Magnetfeld zugleich dazu diente, das Fusionsplasma im Tokamak einzudämmen. Den Rand säumten mikrometrische Lagestabilisatoren und Bogenfeld-Gravomotoren, und sie justierten die Position mit ausreichender Genauigkeit, um den Strahl auf einen ausgewählten Quadratmeter des Kontinents in der Tiefe zu richten. So präzise arbeitete das System zur Lagestabilisierung, dass die Minitriebwerke kurz aufflammten und nachjustierten, als Amistad auf dem Donut landete

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