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Die Vergessenen

Die Vergessenen

Titel: Die Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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praktisch einzigartig. Die Überreste von Schnatterenten fand man nur selten, denn Kapuzler – die als eifrige Räuber normalerweise Aas mieden – versammelten sich stets zahlreich, wenn eine Schnatterente im Sterben lag oder schon tot war. Sie gingen dann zu einer Fressorgie über und drängelten sich gegenseitig weg in ihrem Eifer, auch noch den letzten Happen aus der Kreatur zu reißen, bis absolut nichts mehr übrig blieb. Wie es schien, produzierten Schnatterenten ein merkwürdig komplexes Hormon, während sie den Vorgang des Ablebens durchliefen, und dieses Hormon trieb Kapuzler in den Wahnsinn. Das schien keine evolutionäre Grundlage zu haben, aber andererseits war Evolution auch nicht immer die Antwort. Ganz gewiss präsentierte sie keinerlei Antwort auf die Frage, warum der Techniker seine grotesken Plastiken schuf.
    Chanter ging zu der riesigen Leiche hinüber, wobei ihm weitere Dryben auffielen, die durch in den Leib gefressene Löcher hinein- und herauskrochen, und blickte anschließend den Lavahang hinauf. Die Schnatterente musste dort oben verschieden und heruntergerollt sein, aber das erklärte immer noch nicht, warum keine Kapuzler angelockt worden waren, um die Überreste zu vertilgen. Vielleicht hatte das mit den kränklichen Buntblättern zu tun und den fehlenden Trikonussen im Vulkanschlot? Chanter verzog das Gesicht und näherte sich dem Hang, und beim Hinaufsteigen verwirrte ihn der Anblick von Pfennigmuscheln noch mehr, die sich hier in ordentlichen Spiralen ans Gestein klammerten. Beim Klettern verspürte er eine gewisse Besorgnis, denn eine tote Schnatterente war sicherlich für die Polisforscher interessant, die inzwischen auf diesem Planeten tätig waren, und die KIs dort oben wussten sicher, dass man die tote Schnatterente hier fand. Sein Besuch weckte vielleicht ihre Aufmerksamkeit, obwohl er nicht so dumm war, davon auszugehen, dass die KIs noch nichts von seiner Anwesenheit auf Masada wussten.
    Am oberen Ende des Hangs holte er sein Palmtop aus der Seitentasche des Rucksacks und rief die Karte auf, die seine derzeitige Position und den Weg zu der Stelle zeigte, deren Koordinaten Drache ihm vor all diesen Jahren genannt hatte. Der Pfeil wies ihm den Weg nach links am Kraterrand entlang, obwohl er bei genauerem Hinsehen feststellte, dass das Ziel zwanzig Kilometer weit direkt voraus lag. Das Trekkingprogramm hatte offenkundig etwas entdeckt, das er umgehen musste, eine Klippe oder Spalte, vielleicht einen Fluss. Er ging los, und die großen flachen Füße klatschten auf Schieferformationen, die durch die Myzelfasern der Bergpilze zusammengebunden waren. Zum Glück war es früh in der Saison für diese Pflanzen, und sie hatten das Gestein noch nicht rutschig gemacht, obwohl das den Nachteil mit sich brachte, dass er wahrscheinlich keinen der pilzsaugenden Herbivoren zu sehen bekommen würde, die hier oben hausten.
    Nachdem er den halben Kraterrand umrundet hatte, wies ihm der Pfeil den Weg einen leichten Hang hinunter in eine Schlucht, gebildet von schwarzen Basaltwänden, die nur wenige Meter hoch aufragten. Er stapfte dort hinunter, blieb aber am Fuß des Hangs stehen und sah sich gründlich um. Vielleicht hatten ihm diese Schnatterente und die Seltsamkeiten im Krater ein unheimliches Gefühl eingeflößt, aber er glaubte, dass etwas ihn imAuge hatte. Er blickte nach oben. Vielleicht war da ja etwas, eine KI womöglich, die einen Sensor direkt auf diesen Kadaver gerichtet hatte und jetzt müßig Chanter auf seinem Weg verfolgte. Er schüttelte sich und stampfte weiter, und die Beine taten ihm aufgrund all dieser ungewohnten Anstrengung allmählich weh.
    Nach fünf Kilometern suchte sich Chanter einen passenden Stein und sank schwer darauf. Er sagte sich, dass sein amphibienadaptierter Körper so wenig für diese Landschaft geeignet war wie Micks störanfällige Technik, aber er konnte sich nichts vormachen. Er wäre nach der gleichen Strecke Fußweg auf der Wurzelstockmatte der Flötengrasprärie genauso kaputt gewesen. Hier ging es nicht um Adaptation, sondern darum, dass er zu viel Zeit auf seinem fetten Froschhintern sitzend zugebracht hatte. Er nahm den Rucksack von den Schultern und holte die Lunchbox hervor, öffnete sie, gab damit den Blick auf eine wimmelnde Masse grüner Nematoden frei, beugte sich vor und schnappte einen Haufen davon mit der klebrigen Zunge auf, mampfte auf dieser wimmelnden und salzigen Speise und schluckte sie mit einem augapfelsaugenden Würgen herunter.

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