Die Vergessenen

wirklich auf eine Insel gebracht, einen weiteren Stützpunkt, diesmal einen auf der Erdoberfläche. Das konnte nur eins bedeuten: In den Reihen der Theokratie fand man Verräter, die irgendwie in die Scanner der Kameras eingedrungen waren, mit denen die orbitalen Laserstellungen ausgerüstet waren. Irgendwie wurden diese Kameras nicht auf die Stelle hier gerichtet. Sobald Jem entkommen war, würde er sorgsam auswählen müssen, wem in der Bruderschaft er darüber Bericht erstattete. Vielleicht war es am besten, wenn er dem Hierarchen persönlich eine Meldung übermittelte. Natürlich war das hier nicht wirklich die Häretikerinsel, aber dass der Untergrund so viele Ressourcen aufgewandt hatte, um diesen Ort, diese Fiktion zu schaffen, das zeigte, wie wichtig sie ihr Projekt zur Untergrabung des Glaubens nahmen.
    Er stand auf, starrte das blutige Messer in seiner Hand an und erinnerte sich vage, wie er Sanders gezwungen hatte, ihn an die Oberfläche zu bringen … nein, hier heraus. Sein Blick schweifte nach unten, dann den Rand der Terrasse entlang zu der Stelle, wo Sanders in einer Blutpfütze an der niedrigen Steinmauer zusammengesackt war, wobei eine Blutspur über die Fliesen zu dieser Stelle führte. Irgendwie hatte sie ihn schlagen, ja bewusstlos schlagen können, war dabei aber nur selbst zu Tode gekommen. Er spürte, wie Trauer in ihm aufstieg, Bedauern, und es war so viel stärker, als vernünftig erschien, wenn man all das bedachte, was diese Leute hier mit ihm angestellt hatten. Er ging hinüber und blickte auf Sanders hinab. Ihre blonden Haare klebten im gerinnenden Blut, das ungeachtet der Luft hier hellrot blieb.
    »Ich wurde an diesen Planeten adaptiert – mit Polistechnik«, murmelte ihre Stimme in seinen Gedanken. »Ich kann hier atmen.«
    Er erinnerte sich, wie sie vor ihm gestanden hatte, die Arme ausgebreitet und nur mit einem blauen Bikini bekleidet. Er schüttelte den Kopf, um das Bild zu verbannen, blickte erneut das Austernmesser in seiner Hand an und warf es mit einer ruckartigen Bewegung weg, sodass es klappernd davonpurzelte, ehe er dann zur Treppe stolperte, die zum Strand hinabführte. Er atmete schwer, hatte Schwierigkeiten, Luft zu holen.
    Er krallte an der Kopfabdeckung herum, versuchte sie herunterzureißen, aber das Ding war inzwischen weich und vermittelte Schmerzen. Sie hatten es also aufgebessert, damit es realistisch aussah und sich auch so anfühlte, aber damit konnten sie ihn nicht übertölpeln. Das war nicht sein Gesicht. Als sich dann verstärkt Erinnerungen zurückmeldeten, nahm er abrupt die Hände herunter. Ob das Ding eine Prothese war, wie Sanders behauptet hatte, oder nur dazu diente, das eigene Gesicht vor ihm zu verbergen, das war nicht von Belang. Eine weitere Behauptung von ihr, die jetzt wieder ins Bewusstsein trat, war jedoch von Belang. Sanders hatte gesagt, dass die Prothese ihn wie ein Skole mit atembarer Luft versorgte, obwohl sie ihm anders als ein Skole zehn Tage lang das Atmen ermöglichte, und jetzt fand er sich hier im Freien wieder und atmete ohne eine Maske.
    Er hob die Hand des künstlichen Arms und betrachtete sie forschend. Auch sie hatte man realistischer gestaltet, bis hin zu den Haaren auf dem Handrücken. Er blickte auf die Armbanduhr und stellte den Timer auf einen Countdown von zehn Tagen ein. Sofern sie ihn nicht angelogen hatten, was den Sauerstoffvorrat anbetraf – was ihm sehr wahrscheinlich schien –, blieb ihm dieser Zeitraum, um in die Theokratie zurückzukehren.
    Los! Ich muss in die Gänge kommen!
    Er warf noch einmal einen Blick auf die Leiche. Soweit er wusste, war Sanders der erste Mensch, den er je umgebrachthatte, und er konnte nicht glauben, dass seine Gefühle darüber mit dem übereinstimmten, was andere Killer erlebten. Wie brachten es diese Leute fertig, erneut zu töten? Während er zum Strand hinabstieg, jeder einzelne Schritt unsicher, ging ihm durch den Kopf, dass sie vielleicht doch Risse in seinen Glauben geschlagen hatten, denn wäre der Glaube stark gewesen, hätte er doch nicht solches Bedauern darüber empfunden, das Leben eines Feindes genommen zu haben?
    Der Sandstrand gab sachte unter seinen Schlappen nach, und ein Blick an die richtige Stelle zeigte Jem Sanders’ schwindende Fußspuren, wo sie aus dem Meer gestiegen waren. Wie konnten solch schwindende Abbilder alles sein, was ein Mensch in der Welt zurückließ? Wie konnten Leute vom Schlage Sanders’ glauben, dass das alles war? Himmel beziehungsweise