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Die Vergessenen

Die Vergessenen

Titel: Die Vergessenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Wissenschaft«, entgegnete Chanter stur, wandte sich ab und ging zum Ausgang der Plattform.
    »Dass alles analysiert, katalogisiert und verstanden werden kann, das zerstört nicht seinen Wert. Mystizismus ist die Arbeitsweise eines Verstandes, der nach Alternativen zur Realität sucht.«
    Chanter floh von der Plattform und kehrte in den Schlamm zurück.
    Während der Rebellion waren viele Gebäude hier in Zealos zerstört worden, aber inzwischen hatte man sie ersetzt, und Technik und Baustoffe aus der Polis waren überall zu sehen. Für Sanders war es jedoch ein sehr seltsames Gefühl, unbehindert diesen Straßen zu folgen. Selbst nachdem sie in den zurückliegenden zwanzig Jahren zeitweise hergekommen war, erwartete sie immer noch, die Hand eines Proktors auf der Schulter zu spüren und zu hören, wie er ihren Ausweis zu sehen verlangte. Das war unmittelbar vor der Rebellion geschehen, als sie und einige weitere Rebellen hier aus einem Laden der Theokratie medizinische Güter hatten stehlen wollen. Zum Glück kamen sie damals mit dem Leben davon, während der betreffende Proktor in einer städtischen Abwasserleitung gelandet war.
    Die Church Street lag vor ihr, und zwei der vier Kirchen, die diese säumten, wurden immer noch von den vielen hier lebenden Gläubigen besucht, obwohl sie verstohlen und oft verkleidet kamen, wohl wissend, dass Späher des Aufräumkommandos in der Gegend waren und die Kirchgänger, wenn man sie erkannte, sich öffentlichem Spott ausgesetzt sehen würden. Die beiden übrigen Kirchen dienten heute jedoch anderen Zwecken. Episcopal See, die unmittelbar nach der Rebellion eine ausgebrannte Ruine gewesen war, war in einen Versammlungssaal für Rebellensoldaten umgewandelt worden. Die große Kirche von Zelda Smythe, die Kuppel und zwei der vier Glockenturmspitzen damals eingestürzt, hatte man liebevoll wiederhergestellt, die Kirchtürme mit Silber überzogen und die Kuppel mit Gold. Niemand kam jedoch hierher, um die Satagenten zu zitieren und das Lob der Prophetin zu singen, obwohl es zutraf, dass die Abendmahlsgänger hier erschienen, um mit etwas zu sprechen, das einem Gott verwandt war.
    Ein abgeschirmter Fußweg endete an einer Seitentür zur Kirche, aber das Haupttor lag frei zur offenen Straße. Sanders erstieg rote Marmorstufen zu der großen Gewölbetür aus Traubenholz, drehte den einzelnen schwarzen Eisenring im Mittelpunkt und drückte die Tür gegen den Innendruck auf. Sie betrat den Kirchenraum, und die Tür schwang hinter ihr lautlos zu. Sanders betrachtete forschend den Innenraum.
    Nach wie vor standen Bankreihen beiderseits des zentralen Ganges, und vor diesem breitete sich der raue Gebetsboden aus Stein aus, wo die tief Religiösen sich die Knie blutig schaben und die Stirn schrammen konnten, während sie sich bei der Rezitation der Satagenten in Raserei steigerten. In den vier Ecken der Kirche führten Türen zu den Wohnräumen des Bischofs, seiner Pfarrer und sonstigen Mitarbeiter sowie Gäste, die hier an einem Intensivkurs zur Glaubenskräftigung teilnahmen. Natürlich fand man heute keinen dieser Leute mehr hier. Alle Mitglieder der Bruderschaft in Zealos, die in Zombies verwandelt worden waren, waren von den Rebellen erschossen und in einem Massengrab vor der Stadt beigesetzt worden, bis dann Polismaschinen auftauchten, um die gefährlichen Leichen zu entfernen. Viele aus der Theokratie, die noch auf ihre Gabe gewartet hatten, wurden damals ebenfalls gejagt und niedergemetzelt; andere flohen, und wieder andere überlebten – Sanders hatte einige davon auf der Häretikerinsel behandelt.
    Während Sanders dem Zwischengang zum Altar und den beiden Kanzeln folgte, blickte sie zu den Malereien hinauf, die das Kuppelinnere schmückten. Was sie sah, lief auf einen Mischmasch aus religiösen Motiven hinaus: die Amoretten als geflügelte Buddhas, klassische christliche Dämonen neben der Göttin Kali und anderen, obskureren Monstern, die angeblich die Unredlichen peinigten, während die Rechtschaffenen leuchtendeKronen, wallende Gewänder und Dracocorp-Verstärker trugen. Sanders war zuvor nur zweimal hiergewesen, beide Male nach Wiederherstellung der Kirche. Sie war allerdings überzeugt, dass damals die Rechtschaffenen nicht solche Mienen übelkeiterregender Frömmelei zur Schau getragen, die Verdammten nicht augenscheinlich so viel Spaß gehabt und die Dämonen nicht so amüsiert gewirkt hatten.
    Die Kanzeln ragten beiderseits des Altars auf, ein Stück nach vorn versetzt.

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