Die Vergessenen
unternehmen unsere KIs nicht irgendwas?«, fragte Chanter frustriert.
Erst mit Auffindung der antiken Plastik des Technikers war ihm klar geworden, dass er im Verlauf seiner Jahre hier auf Masada in einer Art Fugue versunken war. Wenn er heute in seinem Tagebuch las, fand er darin jemanden, der so tief in eine abseitige Erforschung von Kunst versunken war, dass er völlig die Orientierung verloren hatte. Inzwischen hatten ihm die Erkenntnisse über die Atheter dazu verholfen, wieder einen Weg zur Klarheit zu finden. Eine Auflösung des Gesamtbilds schien in Griffweite, und doch blieben selbst Intelligenzen wie Amistad frustrierenderweise in der Schwebe. Welche Chance hatte dann er selbst?
»Das wäre problematisch«, wandte Amistad ein. »Als man die Atheter-KI auf dem Schiff, das sie hierherbrachte, mit Energie versorgte, übernahm sie die Schiffs-KI. Sie ist wirklich mächtig, vielleicht mehr als selbst eine Sektor-KI oder etwas wie Jerusalem. Eine Intervention könnte sehr gefährlich werden. Auch bleibt ein moralischer Aspekt zu bedenken.«
»Ein moralischer Aspekt?«
»Die Atheter-KI ist eine außerirdische Intelligenz, also kann man keine Polisstandards auf ihre geistige Gesundheit anwenden. Wir wissen nicht wirklich, ob eine Intervention erforderlich ist, und ebenso wenig haben wir ein Recht einzugreifen.«
»Klingt für meine Begriffe fadenscheinig – und ihr seid weniger vorsichtig, wenn es um Eingriffe in den Verstand eines Menschen geht.«
»Eine Definition der Vernunft und der geistigen Gesundheit ist in diesem Fall klarer«, entgegnete Amistad.
»Also hängen wir völlig in der Luft, scheint es«, meckerte Chanter.
Er trat ans Geländer, das im Grunde nicht benötigt wurde, da ein sehr hochentwickeltes Schimmerfeld die Plattform umhüllte – das Geländer war nur eine psychologische Krücke für Menschen, die hierherkamen, und eine Gelegenheit, ausgeklügelte Scannermechanismen zu montieren. Chanter blickte zum fernen Techniker hinüber, der immer noch zu einer perfekten Spirale zusammengerollt war, und schaltete eine optische Linsenfunktion im Energiefeld ein. Sofort zeichnete sich vor ihm ein Fenster im Schimmerfeld ab, und er fuhr die Vergrößerung hoch, bis es den Anschein hatte, dass er so dicht beim Techniker stand wie nur einmal zuvor, als er nahe genug herangekommen war, um seinen Transponder in den Körper der Kreatur zu schießen.
»Nicht sehr aktiv heute«, stellte er fest.
»Deinem Tagebuch zufolge ist er seit der Rebellion so schläfrig geworden, oder eher, seit du ihn nach der Rebellion wiedergefunden hast – vielleicht ist es eine Reaktion auf die Gefahr der Dschainatechnik hier.«
Chanter drehte sich zu Amistad um, aber die Drohne blieb so undeutbar wie eh und je. »Was bringt dich auf diese Idee?«
»Die Atheter begingen Selbstmord, um genau dieser Technik zu entgehen, also sind sich ihre Biomechs ihrer vermutlich ebenfalls bewusst. Außerdem hat der Techniker in seinen Schlafzeiten bedeutsame innere Veränderungen erfahren.«
»Er hat während der Rebellion auch die Herstellung seiner Plastiken eingestellt«, sagte Chanter.
»Woher willst du das wissen? In deiner ganzen Zeit hier hast du im Schnitt alle paar Jahre eine Plastik gefunden, und es waren nicht unbedingt neue. Er hätte auch Jahre vorher oder Jahre nachher aufhören können.«
»Vielleicht beginnt er von Neuem …«
»Du bist nicht weitergekommen, was dein Verständnis der Plastiken angeht?«, erkundigte sich Amistad.
»Ich denke mir, dass er vielleicht die Kreaturen nachzubilden versucht, die er tötet – eine primitive Form der Beuteverehrung, wie wir sie aus den Höhlenmalereien prähistorischer Menschen kennen.«
»Du versuchst, Kunst zu verstehen, Chanter, legst dabei aber nur persönliche Maßstäbe an – für dich muss sie etwas mehr sein als ihre mathematischen, wissenschaftlichen Aspekte. Sie muss etwas Mystisches sein, etwas Mysteriöses, fast jenseits des Zugriffs der Logik. Es sieht beinahe so aus, als suchtest du nach einem Ersatz für Anbetung.«
»Fick dich!«, sagte Chanter, aber er sagte es ohne Hitzigkeit, denn er hegte selbst Zweifel.
»Es ist eine Schande, dass du lediglich die wissenschaftlichen Instrumente benutzt, die dir die physikalischen Strukturen der Plastiken zeigen, du aber auf keine anderen Hilfsmittel zurückgreifst. Dir steht umfangreiches analytisches Werkzeug zur Verfügung, und seine Verwendung könnte dir etwas … Interessantes zeigen.«
»Kunst ist nicht
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