Die vergessliche Mörderin
laut. »So ein horrender Blödsinn! Ob ich wohl vier Aspirin nehmen kann?«
15
H ercule Poirot saß in seinem Zimmer und überlegte. Wie bei einem Puzzlespiel fügten sich seine Gedanken allmählich zu einem klaren Bild…
Eine Frau, die mit gesenktem Kopf einen Rosenstock beschnitt und sich zu ihm umdrehte… Goldenes Haar mit Wellen und Locken. Der alte Sir Roderick hatte gesagt, sie müsse eine Perücke tragen. Dadurch wirkte ihr Kopf zu schwer, zu statisch, zu ordentlich… Das Zimmer, in das sie gegangen waren… Zwei Porträts an den Wänden. Eine Frau im taubengrauen Kleid. Ein schmallippiger Mund, graubraunes Haar. Offenbar älter als ihr Mann. Sein Bild hing gegenüber. Damals hatte er es nicht so genau gesehen wie später in Restaricks Büro…
George erschien und schloss vorsichtig die Tür hinter sich. »Eine junge Dame möchte Sie sprechen, Sir. Dieselbe, die neulich schon mal hier war.«
Poirot fuhr auf.
»Die junge Dame, die mich beim Frühstück gestört hat?«
»Nein, Sir. Die Begleiterin von Sir Roderick Horsefield.«
»Ach?« Poirot zog die Brauen hoch. »Führen Sie sie herein, George.«
Sonja stand bereits auf der Schwelle. »Es war schwierig, mich frei zu machen, aber ich musste kommen und Ihnen sagen, dass ich diese Briefe nicht genommen habe. Ich habe nichts gestohlen!«
»Hat Ihnen das jemand vorgeworfen?«, fragte Poirot. »Nehmen Sie Platz, Mademoiselle.«
»Danke, ich habe wenig Zeit. Ich bin nur hier, um Ihnen zu sagen, dass das nicht stimmt. Ich bin keine Diebin.«
»Ich verstehe. Sie wollen damit sagen, dass Sie weder Papiere, Briefe, Dokumente oder vertrauliche Mitteilungen Sir Rodericks weitergegeben haben. Das meinten Sie doch, nicht wahr?«
»Ja. Er glaubt mir. Er weiß, dass ich so was nie tun würde.«
»Gut. Ich habe Ihre Erklärung zur Kenntnis genommen.«
»Glauben Sie, dass Sie die Papiere finden werden?«
»Ich bin im Moment sehr beschäftigt«, sagte Poirot. »Sir Rodericks Papiere sind noch nicht dran.«
»Er ist sehr beunruhigt. Und es gibt etwas, das ich ihm nicht sagen kann, aber Sie sollen es wissen: Er verliert da u ernd etwas. Die Sachen sind nie da, wo er sie sucht. Er verlegt alles. Natürlich verdächtigen sie mich. Alle verdächtigen mich, weil ich Ausländerin bin, weil – weil sie glauben, ich stehle geheime Dokumente, wie die Leute in den dummen englischen Spionageromanen. Aber das tue ich nicht. Ich bin eine Intellektuelle!«
»Aha«, sagte Poirot. »Gut zu wissen. Wollen Sie mir sonst noch etwas mitteilen?«
»Warum?«
»Es könnte doch sein.«
»Womit sind Sie so beschäftigt?«
»Ich möchte Sie nicht aufhalten. Heute ist sicher Ihr freier Tag?«
»Ja. Ich habe einen freien Tag in der Woche. An dem kann ich machen, was ich will. Ich kann nach London fahren. Ich kann ins Britische Museum gehen…«
»Ja, und ins Victoria-und-Albert-Museum sicher auch? Und in die Nationalgalerie, wenn Sie sich Gemälde ansehen wollen. Und bei gutem Wetter können Sie in den Kensington-Park oder sogar nach Kew Gardens, nicht wahr?«
Sie erstarrte und maß ihn mit einem ärgerlichen, fragenden Blick. »Warum erwähnen Sie Kew Ga r dens?«
»Weil dort so interessante Pflanzen und Bäume sind. Es kostet höchstens Twopence Eintritt. Dafür sehen Sie echte Tropenbäume, und Sie können sich auf eine Bank setzen und ein Buch lesen.« Er lächelte sie entwaffnend an und verzeichnete zufrieden, dass sie noch nervöser wurde. »Aber ich möchte Sie wirklich nicht aufhalten, Mademoiselle. Sie wollen sicher noch Freunde besuchen. Vielleicht an Ihrer Botschaft …«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Oh, aus keinem bestimmten Grund. Sie haben ja selbst betont, dass Sie hier fremd sind, und daher dachte ich, dass Sie sicher bei der Botschaft Freunde haben.«
»Jemand hat Ihnen etwas über mich erzählt, hat mich beschuldigt! Aber ich sage Ihnen: Er ist ein armer alter Mann, der dauernd alles verlegt. Und er weiß gar nichts Wichtiges. Er hat nie geheime Dokumente oder Briefe gehabt. Nie!«
»Wie können Sie das behaupten, Mademoiselle? Seinerzeit hatte er eine bedeutende Funktion und dadurch Zugang zu wichtigen Geheimsachen.«
»Sie wollen mir Angst machen.«
»Keineswegs.«
»Mrs Restarick steckt dahinter! Sie mag mich nicht.«
»Mir hat sie nichts dergleichen gesagt.«
»Ich kann sie auch nicht leiden! Ich traue ihr nicht. Sie hat Geheimnisse.«
»Ach?«
»Ja. Vor ihrem Mann bestimmt. Ich glaube, sie fährt nur nach London, um sich mit einem anderen
Weitere Kostenlose Bücher