Die vergessliche Mörderin
ja, wie das bei ’nem Unfall ist.«
Poirot nickte.
»Sie hat allein gelebt?«
»Ja, Sir.«
»Na, sie wird wohl Freunde und Bekannte im Haus gehabt haben?«
Joe zuckte die Achseln. »Kann schon sein. Im Restaurant hab ich sie nie mit einem von unsern Mietern gesehen. Sie hat wohl mal Gäste zum Essen da gehabt, aber das waren Fremde. Nein, ich glaub nicht, dass sie hier mit jemand befreundet war. Aber am besten sprechen Sie mal mit Mr McFarlane«, sagte Joe, der allmählich nervös wurde. »Das ist der Hausverwalter.«
»Ja, danke, das werde ich tun.«
»Das Büro ist da drüben, Sir. Im Parterre. An der Tür ist ein Schild.«
Poirot ging in die angegebene Richtung und entnahm der Mappe den obersten Brief, der an Mr McFarlane adressiert war. McFarlane war ein gut aussehender Mann Mitte vierzig, mit intelligentem Gesicht. Poirot reichte ihm den Brief, den er öffnete und las. »Aha. Die Hauseigentümer haben mich beauftragt, Ihnen alles zu sagen, was über den Tod von Mrs Louise Charpentier bekannt ist. Was möchten Sie darüber wissen, Monsieur… Monsieur Poirot?«
»Das ist selbstverständlich streng vertraulich«, sagte Poirot. »Die Verwandten sind von der Polizei und von einem Anwalt benachrichtigt worden, aber da ich gerade nach England fuhr, haben sie mich gebeten, mich persönlich zu erkundigen.«
»Ich will Ihnen gern alles sagen, was ich weiß.«
»Wie lange hat sie hier gewohnt, und wie ist sie an die Wohnung gekommen?«
»Sie wohnte seit etwa zwei Jahren hier. Den genauen Termin kann ich nachsehen. Eine Wohnung wurde damals frei, und wahrscheinlich war die Dame, die fortzog, eine Bekannte von ihr. Eine Mrs Wilder, die für die BBC arbeitete und dann nach Kanada ging. Eine sehr nette Dame – ich glaube kaum, dass sie die Verstorbene gut gekannt hat. Wahrscheinlich hat sie nur erwähnt, dass ihre Wohnung frei würde, und Mrs Charpentier gefiel sie.«
»War sie eine angenehme Mieterin?«
Nach einer winzigen Pause antwortete McFarlane: »Hm… ja.«
»Sie können mir ruhig alles sagen«, ermunterte ihn Hercule Poirot lächelnd. »Bisschen viele laute Partys, wie? Sie – sie war vielleicht etwas rücksichtslos?«
McFarlane ging nun mehr aus sich heraus. »Es kamen gelegentlich Beschwerden, aber meistens von älteren Leuten.« Auf eine entsprechende Geste Poirots nickte er. »Ja, sie hat wohl gern getrunken, Sir. Und ihre Freunde ebenfalls. Dadurch kam es im Haus zu Scherereien.«
»Und für Männer hatte sie was übrig?«
»Ach, das möchte ich eigentlich nicht behaupten.«
»Na ja, ist doch nichts dabei…«
»So jung war sie auch nicht mehr.«
»Für wie alt hätten Sie sie gehalten?«
»Schwer zu sagen – vierzig, fünfundvierzig. Sie soll übrigens kränklich gewesen sein.«
»Ja. Das weiß ich.«
»Zuviel getrunken hat sie zweifellos. Und dann kriegte sie Depressionen. Bildete sich ein, krank zu sein, und rannte unentwegt zum Arzt. Sie wissen ja, wie Frauen in dem Alter sind. Sie muss befürchtet haben, sie hätte Krebs. Der Arzt hat sie beruhigt, aber sie hat es ihm nicht geglaubt. Bei der Leichenschau hat er gesagt, sie wäre ganz gesund gewesen. Na ja, leider hört man so was oft. Sie hat sich regelrecht ruiniert, und eines schönen Tages…« Er nickte.
»Traurig«, meint Poirot. »Hatte sie hier im Haus irgendwelche Freunde?«
»Ich glaube nicht. Bei uns gibt’s das kaum. Unsere Mieter sind fast alle berufstätig und viel unterwegs.«
»Ich dachte an Miss Claudia Reece-Holland und überlegte, ob die beiden sich wohl gekannt haben.«
»Miss Reece-Holland? Nein, vermutlich nicht. Gekannt haben sie sich wahrscheinlich, vielleicht auch gelegentlich ein Wort miteinander gewechselt – aber gesellschaftliche Beziehungen waren da wohl nicht. Schon der Altersunterschied, ich meine…«
Poirot sah ihn neugierig an. »Eine der jungen Damen, die bei Miss Holland wohnen, hat sie gekannt. Miss Norma Restarick, glaube ich.«
»Ach? Darüber weiß ich nichts. Sie wohnt noch nicht lange hier. Ich kenne sie nur vom Sehen. Sie wirkt immer so ängstlich. Noch sehr jung, vermutlich kommt sie direkt von der Schule. Kann ich noch etwas für Sie tun, Sir?«
»Nein, vielen Dank. Sie waren sehr freundlich. Oder könnte ich vielleicht die Wohnung sehen… Um in Frankreich sagen zu können…« Poirot verstummte.
»Warten Sie. Jetzt wohnt Mr Travers dort. Er ist tagsüber fort. Ja, kommen Sie bitte mit, Sir.«
Sie fuhren in den siebten Stock. Als McFarlane den Schlüssel ins Schloss
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