Die Verlassenen
nach einem Ort suchte, an dem er sein jüngstes Opfer verscharren konnte ...
Was war das?
Für den Bruchteil einer Sekunde hätte Ree schwören können, dass sie im wabernden Dunst ihres Scheinwerferlichts etwas gesehen hatte.
Doch da war nichts. Nur ein Schatten. Oder vielleicht ein vorbeihuschendes Tier ...
Da war nichts.
Sie legte den ersten Gang ein und fuhr langsam an. Wenn irgendetwas im Nebel gelauert hatte, dann war es jetzt verschwunden.
Nervös lachte sie in sich hinein. „Es gibt keine Geister. Es gibt keine Magie und keine Zauberei.“
Und als sie diese Worte laut ausstieß, stieg eine weitere Erinnerung an jenen Tag auf dem Friedhof von Rosehill in ihr hoch.
„Das ist ein seltsames Mädchen“, hatte ihre Großmutter in unheilvollem Ton gesagt, nachdem Ree ihr von Amelia erzählt hatte. „Sie hat Augen, mit denen sie einem direkt in die Seele blicken kann. Meine Cousine Lulu hatte auch solche Augen. Sie wurde nämlich mit einer Glückshaube geboren.“
„Was ist das?“
„Das ist so etwas wie eine Eihaut. Wenn sie sie entfernen, hat das Baby manchmal das zweite Gesicht.“
„Und was ist das?“
„Das bedeutet, mein Kind, dass solche Menschen Dinge sehen, die wir nicht sehen.“
„Meinst du so etwas wie Magie?“
„Magie? Ich denke, so könnte man es nennen ...“
Ree verdrängte die Erinnerung und sah sich um. Während sie hier ihren Erinnerungen nachhing, hatten sich ihre Fenster mit Raureif überzogen, und eine außergewöhnliche Kälte war ins Wageninnere gekrochen. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf, und sie brauchte einen Moment, bis sie den Mut aufbrachte, sich umzudrehen und auf den Rücksitz zu schauen.
Doch da war niemand, natürlich nicht, und wieder musste sie über sich selbst lachen.
„Es gibt keine Geister.“
Aber sie musste den Satz noch zweimal laut aussprechen, bis ihre Stimme überzeugt klang.
Hayden Priest überprüfte die Anzeige auf seinem elektromagnetischen Strahlendetektor und runzelte die Stirn. Keine Ausschläge, absolut nichts. Er verbrachte nun schon die zweite Nacht auf dem Friedhof von Oak Grove, und bis jetzt hatten seine Geräte noch nicht einmal ein Flackern registriert, und das trotz der zuversichtlichen Behauptung eines seiner Kollegen am Institut für Parapsychologie in Charleston , dass der verlassene Friedhof ein Hotspot für paranormale Phänomene sei. Das Gelände um das Bedford-Mausoleum – das älteste Grabmal von Oak Grove – war angeblich bekannt für seine Geisterflecke. Doch Hayden hatte noch keinen gesehen. Also war es vielleicht an der Zeit, zusammenzupacken und sich auf einen anderen Friedhof zu begeben.
Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass sein Glaube an das Unbekannte inzwischen gegen Null ging. Seit neun Jahren – seit seinem sechzehnten Geburtstag – versuchte er sich jetzt als Geisterjäger. Und das Einzige, was er in dieser Zeit entdeckt hatte und was man noch am ehesten als übersinnlich oder übernatürlich hätte bezeichnen können, war ein unbestimmtes Geräusch gewesen, bei dem es sich möglicherweise um ein bösartiges Knurren gehandelt hatte, das sein digitales Stimmaufzeichnungsgerät in Kansas aufgenommen hatte, auf einem ländlichen Friedhof, den man eines der sieben verschollenen Tore zur Hölle nannte. Eine kümmerliche Ausbeute nach den ganzen Anstrengungen, aber Dr. Rupert Shaw, der Gründer des Instituts, ein wahrer Guru in seinem Fach und der Mann hinter den Kulissen, hatte einen Lieblingsspruch: Parapsychologie ist nichts für Leute mit schwachen Nerven oder wenig Geduld.
Nur wenige Erscheinungen traten auf. Unter den mehreren Dutzend Fällen, die das Institut jedes Jahr untersuchte, waren nur eine Handvoll, für die es keine logische oder wissenschaftliche Erklärung gab. Doch genau diese Handvoll Fälle hielt die Motivation der Forscher aufrecht.
Vielleicht war es inzwischen aber auch einfach nur Gewohnheit, dachte Hayden. Jedenfalls empfand er die einsamen Nachtwachen auf dem Friedhof stets als wesentlich heilsamer als die Gruppentherapie-Sitzungen, in die seine Eltern ihn nach dem Selbstmord seines Bruders geschleppt hatten. Hayden hatte nie einen Psychiater gebraucht – weder damals noch heute. Er hatte von Anfang an gewusst, dass er nicht schuld war an Jacobs Tod. Sein Bruder war schon sehr lange krank gewesen. Frühkindliche Schizophrenie war selten, aber bei Jacob war die Krankheit mit acht Jahren diagnostiziert worden. Trotz der Medikamente waren die Stimmen und die
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