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Die Verlassenen

Die Verlassenen

Titel: Die Verlassenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Stevens
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fest.
    Und sie fragte sich, ob nach so langer Zeit immer noch etwas auf dem Friedhof von Oak Grove begraben war, was das bewies.
    Als Ree die Anstalt kurze Zeit später verließ, war es draußen dunstig. Hastig lief sie über den feuchten Parkplatz zu ihrem Wagen, drehte sich einmal kurz um und schaute auf die eindrucksvollen weißen Säulen und die strahlende Fassade des Krankenhauses. Sie hatte immer gefunden, das historische Gebäude sei ein passendes Wahrzeichen für alles, was drei Generationen von Farrantes auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie geleistet hatten. Doch jetzt sah sie nur dunkle Geheimnisse.
    Sie fröstelte in der trüben Nässe, stieg in ihren Wagen und ließ den Motor an. Als sie vom Parkplatz fuhr, schwand die Helligkeit der Flutlichter, und ein Baldachin aus Virginia-Eichen verdeckte den Himmel. Es war eine sehr düstere Nacht.
    Am Ausgang zeigte sie ihren Ausweis vor und wartete, bis das Tor aufglitt. Dann winkte sie dem Wachmann zu, fuhr durch das Tor und fädelte sich auf der Durchgangsstraße in den dichten Verkehr ein. Wenn man das abgeschlossene Gelände verließ, war es ein bisschen so, als würde man in eine andere Dimension wechseln. Die Anstalt lag zwar in der Stadt, doch sie war so abgeschieden hinter den Mauern, eine Welt für sich, in dieser Nacht mehr denn je.
    Ein paar Straßen weiter östlich fuhr Ree auf das Gelände der Emerson University, eine hübsche und kaum weniger inselartige Welt als die, die sie gerade hinter sich gelassen hatte. Trotz des feuchten Nebels kurbelte sie das Fenster herunter und ließ den üppigen Duft des Charlestoner Abends in ihren Wagen strömen. Es gab nichts Südstaatenmäßigeres – oder Berauschenderes – als diese Mischung aus Jasmin, Magnolien und Meer. Das betörende Aroma zupfte an ihren Sinnen wie eine Erinnerung. Wie die unheimliche Melodie, die durch die Lautsprecher ihrer Stereoanlage schallte.
    Was war das nur für ein Lied? Es kam ihr so bekannt vor und doch so fremd. So ... bewegend.
    Ree summte mit, obwohl sie überzeugt war, dass sie den Song noch nie zuvor gehört hatte. Die verträumten Noten hatten eine fast hypnotische Wirkung, und ohne genau zu wissen, wohin sie eigentlich fuhr, fand sie sich plötzlich am hinteren Ende des Universitätsgeländes wieder, wo es an einen dichten Wald angrenzte. Irgendwo versteckt in diesem Wald lag der Friedhof von Oak Grove.
    Sie hatte eine vage Vorstellung, wo der Friedhof lag. Der gruseligen Totenstätte in betrunkenem Zustand einen Besuch abzustatten war an der Emerson University fast so etwas wie ein Aufnahmeritual, und in ihrem ersten Semester war sie so ziemlich zu allem bereit gewesen.
    Wenn Ree heute an diese Zeit zurückdachte, erkannte sie, dass sie mit ihrem leichtsinnigen Verhalten nur auf die Scheidung ihrer Eltern reagiert hatte. Zum Glück hatte die plötzliche Unabhängigkeit mit der Zeit an Reiz verloren, sodass sich auch ihr Bedürfnis gelegt hatte, sich auszutoben, und jetzt lebte Ree fast nur noch das andere Extrem, denn sie konnte sich kaum noch erinnern, wann sie das letzte Mal mit Freunden ausgegangen war. Von einer Verabredung mit einem Mann ganz zu schweigen.
    Ree fuhr auf die Cemetery Road, doch sie hatte nicht vor, mitten in der Nacht allein einen verlassenen Friedhof zu erkunden. Neugierig zu sein war das eine; dämlich zu sein war etwas ganz anderes. Im Grunde fuhr sie die Strecke nur, um sich davon zu überzeugen, dass sie den Friedhof noch wiederfand.
    Da rechts und links von der Cemetery Road Wald war und die Bäume die Straße zu erdrücken schienen, beugte sie sich weit über das Lenkrad und spähte ängstlich in die nebelige Finsternis. Als sie zu ihrer Linken zwischen den Bäumen eine Lücke entdeckte, fuhr sie an den Straßenrand, ließ den Motor eine Weile im Leerlauf und blickte sich um. Ja, hier war der Friedhof. Von der Stelle aus, wo sie stand, konnte sie den Anfang des urwüchsigen Pfades erkennen, der zum Haupteingang führte. Das Tor konnte sie nicht ausmachen, dazu war es zu dunkel, aber Ree erinnerte sich, dass es damals, als sie hier gewesen war, mit einer Kette verschlossen gewesen waren. Dabei hatte ein Vorhängeschloss keine besonders abschreckende Wirkung gehabt. Man brauchte nur auf der einen Seite an einer Virginia-Eiche hinaufzuklettern und auf der anderen Seite wieder hinunter.
    Schaudernd dachte sie, dass genau in diesem Augenblick irgendjemand dort drinnen sein könnte. Irgendein Obdachloser vielleicht. Oder ein Serienmörder, der

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