Die Verlassenen
hinter einem der zerbrochenen Engel. Hayden traute seinen Augen nicht. Nach so vielen Jahren schwebte vor ihm eine Erscheinung durch den Nebel.
Er erschrak so heftig, dass er beinahe das empfindliche Thermometer hätte fallen lassen, das er immer benutzte, um nach kalten Stellen zu suchen. Doch er konnte es gerade noch festhalten und umklammerte es aufgeregt, während er sie betrachtete. Sie war so bleich, so zart, so betörend, als stammte sie aus einem dunklen Gedicht.
Doch sie war kein Geist, das wurde Hayden fast sofort bewusst. Sein Phantom war aus Fleisch und Blut und bekleidet mit einem Schlafanzug aus weißer Baumwolle, der im Licht des Mondes durchscheinend wurde.
Als sie zu der Treppe kam, die zum Mausoleum führte, schaute sie sich erwartungsvoll um und neigte dann den Kopf zur Seite, als hätte ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregt. Langsam hob sie die Arme und begann zu tanzen.
Der unebene Boden konnte mit daran schuld sein, doch sie bewegte sich ohne rechte natürliche Anmut und ohne erkennbaren Rhythmus, und immer wieder stolperte sie über eine Wurzel und über abgebröckelte Grabsteinteile. Hayden war erheitert und absolut gefesselt zugleich.
Nach einer Weile jedoch wurde ihm unbehaglich zumute. Er kam sich irgendwie schäbig vor, weil er sie hier bespitzelte, doch er wollte sie nicht erschrecken oder beschämen, indem er sich bemerkbar machte. Aber er wollte sich auch nicht leise davonschleichen und sie allein auf dem verlassenen Friedhof zurücklassen. Was zum Teufel machte sie hier überhaupt?
Er räusperte sich, doch sie achtete nicht darauf. Also entschied er sich für einen kühneren Schritt und trat aus der Dunkelheit, damit sie ihn sehen konnte. Sie erstarrte. Sie sahen einander in die Augen. Und dann tat sie etwas, was Hayden sich nie im Leben hätte vorstellen können. Sie lief auf ihn zu, schlang ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu sich herunter, um ihn zu küssen.
Er war so verblüfft, dass er keine Zeit hatte, sich zu wehren. Und er wollte den Kuss auch nicht erwidern. Die ganze Situation war einfach verdammt seltsam, doch als sie sich an ihn presste – und, Mann, dieser Schlafanzug überließ nichts der Fantasie –, spürte er, wie ihn das körperlich erregte, obwohl er sich die ganze Zeit sagte, dass er schleunigst verschwinden sollte. Diese Tusse war total schräg.
„Ich habe auf dich gewartet“, stieß sie atemlos hervor.
„Sie haben gewartet ... auf mich?“ Er blickte in ihr Gesicht, das sie ihm zuwandte. Blasse Haut, sinnliche Lippen, blaue Augen ... umrahmt von einer Flut dunkler Locken, die nach Ingwer dufteten. Wozu brauchte er noch Hawthorne oder Poe? Diese Frau hätte geradewegs seiner eigenen Fantasie entsprungen sein können.
Sie bewegte sich immer noch wie in Trance, legte ihm die Hände um den Nacken und zog sein Gesicht zu sich herunter, um ihn abermals zu küssen. Ihr Mund war gierig geöffnet, und als sie ihn mit den Zähnen in die Unterlippe biss, erschauerte er. Er konnte nichts dagegen tun. Und es sprach nicht unbedingt für ihn, dass er einen Moment brauchte, bis er sich endgültig von ihr löste.
„Ich glaube nicht ...“
„Mach dir keine Sorgen“, hauchte sie. „Vater ahnt nichts.“
„Er ... ahnt nichts?“
Lächelnd nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Busen. Mit der anderen Hand packte sie ihn.
„Heh. Immer mit der Ruhe.“ Er trat einen Schritt zurück.
Mit züchtigem Blick sah sie ihn an und begann, ihr Oberteil aufzuknöpfen.
„Das ist keine gute Idee. Sie kennen mich nicht, ich kenne Sie nicht ...“
Ihr Oberteil fiel zu Boden. Ihre Haut glänzte wie Marmor im Licht des Mondes.
Grundgütiger. Hayden wollte sie nicht anstarren, aber ... Grundgütiger!
Er hob das Oberteil auf und warf es ihr zu. „Kommen Sie jetzt. Ziehen Sie das wieder an.“
Sie runzelte die Stirn, sah sich um, und auf einmal schien es ihr zu dämmern, denn sie schrie leise auf und zog ihre Hand zurück. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie ihn mitten ins Gesicht geschlagen hätte, wenn er nicht gerade noch ihr Handgelenk zu fassen bekommen hätte. „Wow. Das ist auch keine gute Idee.“
Sie riss die Augen auf und sah auf einmal aus, als würde sie gleich einen hysterischen Anfall bekommen. „Was fällt Ihnen ein? Was tun Sie da?“
Er hob die Hände. „Nichts. Ich schwöre, dass ...“
„Warum haben Sie mich hierhergebracht?“
„Sie sind von sich aus gekommen. Ich kann nichts dafür.“
„Aber wie ...“ Sie
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