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Die Verlassenen

Die Verlassenen

Titel: Die Verlassenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Stevens
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schließlich.
    Eigentlich wollte sie nicht darüber reden, schon gar nicht mit ihm, doch in dem Moment, als er sie beim Arm nahm, war sie verloren. Eine seltsame Bindung hatte sich zwischen ihnen beiden entwickelt, eine Bindung, der sie immer noch nicht ganz traute. Doch sie konnte über diese Tatsache auch nicht hinweggehen. Sie setzte sich neben ihn auf die Stufen des Mausoleums, und irgendwie kam es ihr plötzlich gar nicht mehr so seltsam vor. Man konnte sich gut mit ihm unterhalten, er war ein guter Zuhörer, und ehe Ree sichs versah, erzählte sie ihm ein paar Dinge, die ihr nach Miss Violets Tod widerfahren waren, wobei sie die Erpressung vorsichtshalber ausließ. Wenn das Dr. Farrante zu Ohren kam, würde er sofort ahnen, dass sie die Quelle war, und sie erschauerte schon bei dem bloßen Gedanken daran, wie weit er möglicherweise gehen würde, um seine Arbeit und das Ansehen seiner Familie zu schützen.
    „Und Sie meinen, Miss Violets Tod hat den Traum irgendwie ausgelöst?”, fragte Hayden, nachdem sie geendet hatte.
    „Ich denke, schon. Aber sie war nicht die junge Frau in dem blauen Kleid. Da bin ich mir so gut wie sicher. Ich glaube, dass diese Frau ihre Mutter war, Ilsa. Laut der Widmung in dem Buch war Ilsa 1915 zehn Jahre alt. Violet war Mitte bis Ende achtzig, als sie starb, und das bedeutet, dass sie Anfang der Zwanzigerjahre zur Welt gekommen ist, als Ilsa ein Teenager war.“
    „Warum, glauben Sie, ist Violet in der Nervenheilanstalt gewesen?”
    „Ich habe keine Ahnung. Aber sie war jahrelang dort. Keiner von den Angestellten kann sich an eine Zeit erinnern, in der sie nicht dort war. Ich denke, ihre Einweisung hatte irgendwie mit ihrer Mutter zu tun. Ilsa ist auf diesem Friedhof hier irgendetwas Schlimmes zugestoßen.“
    „Sie haben gesagt, Sie hätten in Ihrem Traum einen Sprechgesang gehört. Konnten Sie heraushören, was da gesprochen wurde?“
    „Nicht so recht. Ich konnte spüren, dass es eine Art Ritual war, aber es war ja nur ein Traum.“
    „Und trotzdem sind Sie jetzt hier.“
    Er war ja auch hier. Ree musste sich wundern, wie jemand mitten in der Nacht auf einem verlassenen Friedhof so locker und entspannt wirken konnte.
    „Es ist möglich, dass Ilsa versucht, mit Ihnen zu kommunizieren“, sagte er.
    „Durch meinen Traum?“
    „Hatten Sie sonst noch irgendwelche ungewöhnlichen Erlebnisse? Kalte Stellen, elektrische Schläge oder so etwas?“
    Ree erinnerte sich an das Radio, das in ihrem Schlafzimmer gespielt hatte, und an die stehen gebliebene Uhr auf Violets Nachttisch. Sie dachte an die reifüberzogenen Fensterscheiben, an den modrigen Geruch in ihrer Wohnung und an das Gefühl, dass jemand hinter ihr war. Zitternd atmete sie durch.
    „Was?“, hakte er nach.
    „Ich glaube nicht an Geister.“
    „Schon klar.“
    „Nur ... seit Violets Tod habe ich das Gefühl, dass mich jemand verfolgt und dass ich mir ständig über die Schulter schauen muss. Und ich habe dieses seltsame Lied gehört. Es ist so eindringlich. Wie eine vergessene Erinnerung.“
    „Reden Sie weiter.“
    „Das ist es so ungefähr. Da spielt natürlich nur meine Fantasie verrückt. Ich habe in letzter Zeit viel zu viel gearbeitet und stehe wegen meiner Masterarbeit unter ziemlich großem Druck. Wenn man erschöpft ist, kann der Verstand einem schon mal einen Streich spielen.“
    „Sind Sie sicher, dass das alles ist?“
    Sie schlang die Arme um die Taille. „So etwas wie Geister gibt es nicht.“
    „Bis heute Nacht hätten Sie es sicher auch für ziemlich unwahrscheinlich gehalten, dass Sie auf einem alten Friedhof schlafwandeln würden.“
    „Das ist etwas anderes“, widersprach Ree, doch ein eisiger Finger strich ihr über den Rücken. „Glauben Sie im Ernst, dass ich hier irgendeine Form von paranormalen Vorgängen erlebe?“
    Er ließ den Blick über den verwahrlosten Friedhof schweifen. „Ich glaube, dass es in dieser Welt – und in der nächsten – viele Dinge gibt, für die wir keine Erklärung haben.“
    Nicht so sehr, was er sagte, als vielmehr, wie er es sagte, machte Ree noch stärker frösteln. „Nehmen wir also an, dass ich wirklich von Geistern verfolgt werde. Warum gerade ich?“
    „Es könnte ganz einfach mit räumlicher Nähe zu tun haben. Der Geist brauchte eine Verbindungsperson, und Sie waren gerade zur Stelle. Oder ...“
    Sie sah ihn an. „Oder was?“
    „Es gibt eine chinesische Legende über hungrige Geister. Geistwesen, die menschliche Gefühle verschlingen.

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