Die Verlassenen
wissen“, murmelte Hayden.
Ree starrte aus dem Fenster auf die Landschaft, die an ihnen vorüberglitt. Es war ein heller und sonniger Morgen, aber sie richtete den Blick auf die dicken Sturmwolken am Horizont. „Ich fass es einfach nicht. Gestern um diese Zeit war meine größte Sorge, dass ich nur ja meine Masterarbeit pünktlich fertigbekomme, damit ich endlich meinen Abschluss habe, mir einen Job suchen und anfangen kann, meinen Schuldenberg abzutragen. Und jetzt bin ich eine wichtige Zeugin in einer Mordermittlung. Und wer weiß? Vielleicht suchen die Cops schon nach mir.“
„Versuch, dich zu entspannen. Wir werden uns irgendetwas einfallen lassen.“
„Du hast gut reden.“ Sie seufzte. „Entschuldige. Du hast dich ganz großartig verhalten. Ich bin nur sehr nervös.“
„Das ist verständlich. Vielleicht sollten wir irgendwo hingehen, wo es ruhig ist, und über alles reden. Wann hast du deine Vorlesung?“
„Erst heute Nachmittag. Aber ich bin um zehn mit Amelia Gray verabredet.“
„Wer ist das?“
Ree strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Habe ich dir noch nicht von ihr erzählt? Das ist die Friedhofsrestauratorin, die Tisdale erwähnt hat. Wir sind in derselben Stadt aufgewachsen, also habe ich sie kontaktiert. Ich dachte, sie könnte mir vielleicht etwas über Oak Grove erzählen.“
„Gute Idee. Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich mitkomme?“
Ree wandte den Kopf zu ihm und stellte fest, dass er sie eindringlich ansah. Sie empfand diesen Blick als beunruhigend, denn sie konnte ihn immer noch nicht so recht einschätzen. „Musst du nicht zurück in die Kanzlei?“
Er grinste. „Die sind es gewöhnt, dass ich ab und zu verschwinde. Sie werden denken, dass ich mich bloß irgendwohin verzogen habe, um für die Zulassung zu büffeln.“
„Und seit wann verschwindest du ab und zu irgendwohin, um für die Zulassung zu büffeln?“, fragte sie in lockerem Ton.
„Seit Dezember. Gewisse Umstände haben verhindert, das Examen im Februar zu machen, also muss ich jetzt bis Juli warten. So bleibt mir jede Menge Zeit für meine wunderliche Nebenbeschäftigung.“
Ree fragte sich, ob er sie wohl als so eine wunderliche Nebenbeschäftigung betrachtete.
Wieder sah er sie an, dieses Mal mit dem Anflug eines Lächelns.
„Was ist?“, wollte sie wissen.
„Nichts. Erzähl mir etwas über diese Amelia Dingsbums, die wir gleich besuchen.“
Ree versuchte immer noch zu ergründen, was es mit diesem Lächeln auf sich haben mochte. „Sie war irgendwie ... anders. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich sie jemals auf einer Party, bei einer Sportveranstaltung oder bei sonst irgendeinem gesellschaftlichen Anlass gesehen habe. Sie hat sehr viel Zeit auf Friedhöfen verbracht. Ihr Vater war Friedhofsverwalter, und ich glaube, sie hat ihm oft bei der Arbeit geholfen. Sie war keine totale Außenseiterin, aber sie war bekannt als so was wie ein Freak.“
„Wenn das so ist, freue ich mich darauf, sie kennenzulernen“, meinte Hayden, und Ree verspürte überraschenderweise einen Anflug von Eifersucht.
Kurze Zeit später fragte sich Ree, ob sie Amelias Überspanntheit und Verschrobenheit nicht vielleicht zu sehr aufgebauscht hatte, denn als sie ihnen die Tür öffnete, sah sie völlig normal aus. Kein wallendes Seidengewand. Kein Rosenkranz. Tatsächlich hatte sie fast genau das Gleiche an wie Ree, nämlich Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Dezentes Make-up. Pferdeschwanz. Genau wie ein ganz normales Durchschnittsmädchen.
Hayden zog fragend die Augenbrauen hoch, und Ree zuckte mit den Schultern, als Amelia sie nach hinten in ihr Arbeitszimmer führte, einen gemütlichen Raum mit Bücherregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten, und mit hohen Fenstern mit Blick in einen Garten. Während sie in die Küche ging, um Tee zu kochen, sahen sie sich die Fotos an, die gerahmt an den Wänden hingen – Friedhofsmotive, bei denen man den Film zweimal belichtet und die Silhouetten von Großstädten darübergelegt hatte. Die Wirkung war hübsch, für Rees Geschmack aber auch etwas düster.
„Seit wann interessierst du dich für Friedhöfe?“, fragte Amelia, als sie mit einem Teetablett zurückkehrte.
„Erst ganz kurz“, antwortete Ree. „Obwohl ich früher mit meiner Großmutter oft in Rosehill gewesen bin. Sie hat die Symbole auf den alten Grabsteinen geliebt. Sie nannte das Grabsteinkunst.“
„Ich liebe das auch“, erwiderte Amelia und hantierte mit den Teetassen. „Grabsteinsymbolik
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