Die Verlassenen
kann einem viel über die Verstorbenen erzählen. Wie sie gelebt haben und wie sie gestorben sind. Und über die Hinterbliebenen, die den Verstorbenen geliebt haben.“ Sie schenkte den Tee ein und bedeutete ihnen dann mit einer Handbewegung, sie sollten auf der Chaiselongue Platz nehmen, während sie sich hinter ihren Schreibtisch setzte. Ree und Hayden setzten sich mit ihren Teetassen nebeneinander.
Ree schaute wieder zu Amelia hinüber. Sie sah jung und unschuldig aus, wie sie so dasaß im Licht des Morgens. Sie sah sogar noch jünger aus als Ree, und trotzdem hatten ihre Züge etwas Dunkles. Etwas Kaltes und Geheimnisvolles verbarg sich hinter ihren blauen Augen.
„Also ... der Friedhof von Oak Grove“, sagte sie schließlich, und Ree hätte schwören können, dass die Frau erschauerte, als sie den Namen aussprach. Aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Denn warum sollte ausgerechnet Amelia Gray bei der Erwähnung eines Friedhofs erschauern?
„Ich habe gehört, dass man dich für die Restaurierung in Betracht zieht“, sagte Ree. „Deshalb habe ich mich mit dir in Verbindung gesetzt. Ich dachte, dass du mir vielleicht ein paar Fragen beantworten kannst.“
Amelia sah erstaunt aus. „Mir gegenüber hat man betont, dass niemand etwas von dem Oak-Grove-Projekt erfahren soll, bis die Restaurierung abgeschlossen ist.“
„Davon weiß ich nichts“, erwiderte Ree. „Dein Name ist in einer privaten Unterhaltung gefallen, die ich zufällig mitangehört habe.“
„Ich verstehe.“
„Wir wollen vor allem herausfinden, wann und warum man den Friedhof aufgegeben hat“, warf Hayden ein. Bis dahin hatte er die meiste Zeit geschwiegen und Ree das Reden überlassen. Sie stellte ihre Tasse auf den Tisch und sah ihn an. Sie fand es tröstlich und ein bisschen beunruhigend zugleich, dass er bei ihr war. Tröstlich nach dem Vorfall auf dem Polizeipräsidium und beunruhigend, weil seine Gegenwart sie so verunsicherte. Sie hatte sich noch nie so schnell für einen Mann interessiert, obwohl ihr bewusst war, dass die Anziehung auch mit dem fantastischen Ort zu tun hatte, wo sie einander begegnet waren. Ein im Nebel liegender Friedhof, ein attraktiver Fremder, und ein Traum hatten sie dortin geführt.
Ree erschauerte und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt.
„Ich fürchte, dass ich euch da nicht weiterhelfen kann“, sagte Amelia gerade. „Ich bin den Friedhof schon ein paarmal abgegangen, um einen Kostenvoranschlag zu erstellen, aber eingehende Recherchen betreibe ich normalerweise immer erst, wenn ich einen Auftrag bekommen habe.“
„Kannst du uns denn wenigstens sagen, ob irgendeiner von den Tisdales in Oak Grove begraben liegt?“, fragte Ree hoffnungsvoll. „Ilsa Tisdale vielleicht?“
„Nein, das weiß ich nicht, tut mir leid. Aber wenn du Zeit hast und ein bisschen Geduld, findest du vielleicht in der Bibliothek von Emerson etwas darüber. Die meisten Dokumente über Oak Grove sind dort im Archiv.“
„Danke“, erwiderte Ree. „Und danke auch, dass wir heute Morgen vorbeikommen durften. Es tut mir leid, dass wir deine Zeit verschwendet haben.“
„Bevor ihr geht ... es gibt da etwas, was ihr über Oak Grove wissen solltet.“
Ree hatte schon aufstehen wollen, doch jetzt ließ sie sich wieder auf die Chaiselongue fallen. Irgendetwas in Amelias Stimme, ein Echo dieser geheimnisvollen Düsternis hinter ihren Augen, brachte Ree dazu, ganz tief Atem zu holen. Hayden hörte es offenbar, denn sie spürte, dass er sie ansah.
Amelia blickte in ihre Tasse, als würde sie aus den Teeblättern lesen. Aus irgendeinem Grund musste Ree an die Cousine ihrer Großmutter denken, an die Frau, die angeblich mit einer Glückshaube zur Welt gekommen war, was ihr die Gabe des zweiten Gesichts beschert hatte.
Als Amelia aufblickte, hatte Ree eine seltsame Vorahnung, Warnung, wenn sie an so etwas wie Glückshauben glauben würde und an das zweite Gesicht.
„Ich habe Friedhöfe immer schön gefunden. Sogar die verfallenen, um die sich niemand mehr gekümmert hat, waren Orte des Friedens für mich. Aber bei Oak Grove ist das anders. Hinter diesen Mauern ist etwas, was ich nicht erklären kann. Es fühlt sich dunkel an ...“ Sie brach ab, und ihr Blick glitt zu Hayden hinüber, als sähe sie in ihm einen Seelenverwandten.
„Auf einem kleinen Landfriedhof in Kansas habe ich einmal ein ähnliches Gefühl erlebt“, sagte er.
„Auf dem Friedhof von Stull“, sagte sie.
Er nickte. „Sie
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