Die verlorene Bibliothek: Thriller
oder vor kleineren Besprechungszimmern.
All die Schönheit und die Historie dieses Ortes standen heute jedoch im Schatten von etwas weit Größerem, dessen Dimensionen nicht nur ehrfurchtgebietend, sondern auch Furcht erregend waren. Immer wieder schaute Emily über die Schulter und suchte nach verdächtigen Personen. Die Männer, die sie am Flughafen zu sehen geglaubt hatte, waren ja vielleicht nur ihrer Paranoia entsprungen, aber sie durfte die Realität nicht ignorieren. Auch der ›Rat‹, den Athanasius erwähnt hatte, war Realität, und er würde vor nichts haltmachen, um seine Ziele zu erreichen. Sie waren zu Michael gegangen, und das hieß, dass sie alles über Emily wussten … vielleicht sogar, dass sie jetzt im Besitz einer Namensliste von Personen war, die offenbar tief in die aktuelle Verschwörung verstrickt waren. Emily wusste, dass der Rat nicht länger nur der Feind der Gesellschaft war. Er war nun auch ihr Feind, und sollte es nötig sein, würde er sie um die ganze Welt jagen.
Emily betrat einen Pavillon aus rotem und weißem Marmor, der im Gedenken an einen Feldzug gegen Bagdad im 17. Jahrhundert errichtet worden war. Der Pavillon lag in der äußersten Ecke des Topkapi, mitten im innersten Heiligtum der königlichen Anlage. Von hier aus konnte sie etwas genießen, was in der Blütezeit des Osmanischen Reiches nur wenigen Auserwählten vorbehalten war: einen ungehinderten Blick über die Stadt und den Bosporus. Der Sultan hatte im wahrsten Sinne des Wortes in seinem Garten stehen und auf sein Reich hinabblicken können.
Und diese Aussicht beunruhigte Emily.
Von ihrem Standort aus konnte sie in der einen Richtung über die Stadt blicken und in der anderen aufs Meer. Dann wanderte ihr Blick zum Wasser direkt unter ihrem Aussichtspunkt hinunter.
Weit unten.
Emily schaute weiter auf das Wasser hinab, doch inzwischen war sie nicht mehr so fest davon überzeugt, den richtigen Ort gefunden zu haben. Hatte sie einen Fehler gemacht?
Der Topkapi-Palast stand auf einem Hügel über dem Meer, doch in Arnos Brief in Alexandria hatte es geheißen, dass ›das Haus des Königs‹ das Wasser ›berührt‹. Berührt . Das war eine seltsame Wortwahl, aber genau das verlieh ihr zusätzliches Gewicht. Wenn Emily inzwischen etwas über Arno Holmstrand gelernt hatte, dann, dass seine Formulierungen stets viel zu präzise waren, als dass sie nicht von Bedeutung gewesen wären. Wenn er etwas sagte, dann meinte er es auch so, und zwar genau so, wie er es gesagt hatte.
Und plötzlich war Emily alles so klar wie das Wasser unter ihr. Palast und Meer waren zwar nahe beieinander, aber sie berührten sich nicht. Und das konnte nur eines bedeuten:
Der Topkapi war der falsche Palast.
KAPITEL ACHTZIG
18:30 U HR
Emily machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Haupttor zurück. Und mit jedem Schritt wuchs ihre Überzeugung, dass der Topkapi-Palast nicht ›das Haus des Königs‹ sein konnte, zu dem Arnos Hinweis sie führen sollte. In Oxford hatte er es mit seinen Formulierungen ja ähnlich gehandhabt, und so war Emily zunächst in der University Church gelandet, doch diese offensichtliche Spur hatte sich ja bekanntlich als Trick erwiesen, um potenzielle Verfolger abzuschütteln. Und auch hier war die Wahrheit wieder verborgen. Zuerst einmal verwies die Spur nicht auf den ersten kaiserlichen Palast, den man mit Konstantinopel in Verbindung brachte, sondern auf einen Palast der Sultane. Aber das Täuschungsmanöver ging noch tiefer.
Das Haus des Königs berührt das Wasser. Das musste auf einen anderen Ort verweisen. Natürlich wusste Emily, warum Arno sich so kryptisch hatte ausdrücken müssen, aber das half ihr auch nicht, das Rätsel zu lösen.
Ein junger Mann saß hinter der Plexiglasscheibe eines Ticketschalters, als Emily näher kam, und wartete auf Besucher. Auf Emily machte er einen zuvorkommenden Eindruck, und das würde ihr bei dem seltsamen Gespräch sicherlich hilfreich sein, das nun kommen würde.
»Bitte, entschuldigen Sie. Ich hätte eine Frage«, platzte sie heraus, noch bevor sie den Schalter erreicht hatte.
»Ja? Wie kann ich Ihnen helfen?« Der junge Mann setzte sich aufrecht hin, und ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Emily hatte also den richtigen Eindruck gehabt.
»Das ist nicht der Palast, den ich will.«
Obwohl er sich um Fassung bemühte, war der Mann sichtlich verwirrt. Englisch war zwar nicht seine Muttersprache, aber wäre sie es gewesen, die Bemerkung hätte ihn genauso
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