Die verlorene Bibliothek: Thriller
Tippen.
»Sie hat gerade zwei SMS bekommen, beide von derselben Quelle. Die Nummer ist ägyptisch. Wir werden sie gleich zurückverfolgt haben.«
»Können Sie auch den Text herausfiltern?«
»Selbstverständlich.« Ein paar Tastaturbefehle später schaute der Techniker ernst zum Sekretär. »Bei beiden Nachrichten handelt es sich um Namenslisten.«
Ewan trat zu dem Monitor des Mannes und blickte ihm über die Schulter und auf den Text der SMS. Das war die Liste. Das Leck. Das immer größer werdende Leck.
Ohne ein weiteres Wort zu den anderen Männern im Raum holte der Sekretär ruhig sein Handy aus der Tasche, drückte eine Kurzwahltaste und hielt es sich ans Ohr.
»Ihr Auftrag hat sich geändert«, sagte er, als die Verbindung zu Jason in Istanbul zustande kam.
»Es ist an der Zeit, Emily Wess zu eliminieren. Überprüfen Sie, was sie sonst noch weiß; dann schicken Sie sie zu ihren Vorfahren.«
KAPITEL NEUNUNDSIEBZIG
I STANBUL , T OPKAPI -P ALAST – 18:15 U HR O RTSZEIT
Emily blieb kurz am Haupttor des Palastes stehen, um die zwanzig türkischen Lira Eintrittsgeld zu bezahlen; dann ging sie durch den Garten zum Hauptkomplex.
Wie so viele andere Gebäude auch, die Emily in den letzten beiden Tagen gesehen hatte, sollte der Palast beeindrucken. Aber er tat das auf eine andere Art und Weise wie die erhabene Architektur der Universität von Oxford oder die futuristische neue Bibliothek von Alexandria. Seit seiner Fertigstellung 1478 durch Mehmet den Eroberer hatte der Palast den türkischen Sultanen als Heim und Regierungssitz gedient. Keine zwei Gebäude glichen einander, und die osmanischen Baumeister hatten – ganz anders als in Oxford und Alexandria – alles in bunte Farben getaucht. Blaue, rote und goldene Fliesen zierten die Gebäude innen wie außen; bunt bemalte Kolonnaden stützten goldgedeckte Vordächer, und überall sprudelten Springbrunnen. Der Gesamtkomplex mit seinen neunundsechzig Hektar Grundfläche war eher ein kleines Dorf mit unzähligen kleineren und größeren Gebäuden als eine einheitliche, große Struktur.
Emily wusste nur wenig über den Topkapi, vielleicht ein wenig mehr als der gewöhnliche Tourist ohne Geschichtsbewusstsein, aber definitiv nicht viel mehr als in dem kleinen Pamphlet zu lesen war, das man ihr an der Kasse in die Hand gedrückt hatte.
Bis in die 1840er Jahre hatten die osmanischen Sultane im Topkapi residiert. Ein ganzes abgeschottetes Areal, der Harem, diente dabei dem Herrscher und seiner engsten Familie als Heim. Daneben gab es jedoch auch noch Verwaltungsgebäude sowie Unterkünfte für den Wesir und seine Minister, die der Sultan in seiner unmittelbaren Nähe wissen wollte. Des Weiteren befanden sich die königliche Schatzkammer, Ställe, ein Paradeplatz, Waffenkammern, Hospitäler, Bäder, Moscheen und Audienzsäle auf dem Gelände, einfach alles, was ein regierender Monarch sich wünschen konnte. So musste der Herrscher sich nur zum Pöbel begeben, wenn es unbedingt nötig war.
Schon in den Vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts war der Palast zu einem Museum geworden, als der Sultan beschlossen hatte wegzuziehen. Kemal Atatürk hatte ihn dann 1924 zum Nationaldenkmal erklären lassen und dem Kultusministerium unterstellt, und so war es noch heute. Doch in seiner Funktion als Museum bot der Topkapi-Palast dem interessierten Besucher nicht nur einen Einblick in das höfische Leben der Osmanen, er beherbergte auch eine große Sammlung islamischer Kunst und historischer Artefakte. Das wertvollste Stück davon war ein Haar vom Bart des Propheten Mohammed. Es wurde in einer Glasvitrine in einem eigens dafür designten Raum ausgestellt, und daneben las ein muslimischer Gelehrter ständig Verse aus dem Koran.
Emily genoss die Szenerie. Auch wenn sie die Ereignisse des Tages belasteten, der Topkapi war einfach wunderschön und musste dementsprechend bewundert werden. Als kühle Abendluft vom Marmarameer in die Palastanlage drang, ging Emily über einen gepflasterten Weg und zwischen gut gepflegten Blumenbeeten hindurch zum Bagdad-Pavillon in der Nordostecke des Palastes. Überall plätscherte Wasser in Brunnen. Dabei fiel Emily ein, mal gelesen zu haben, dass das Plätschern der Brunnen nicht nur der Entspannung gedient hatte. Es war auch ein willkommenes ›Hintergrundrauschen‹ gewesen, sodass man die Gespräche des Sultans nicht so einfach belauschen konnte. Deshalb standen die Brunnen auch fast immer vor Fenstern, den Eingängen der großen Audienzsäle
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